Es war ein Körper mit Flanken wie gespannte Bogensehnen, zwei Schweifen und einem länglichen Schädel, auf dem eine farblose Mähne loderte. Und doch war es nichts, weniger als ein Schatten. Hel wusste nicht, ob sie es nur mit der zweiten Sicht sah. Doch der Junge hatte sich halb umgedreht und schien es ebenfalls zu bemerken.
»Das ist ein Lymaerus, ein Geist!«, flüsterte sie.
»Du gibst ihm einen Namen?«, fragte der Junge verwundert.
Das Wesen bäumte sich über Hel auf. Augen glommen sie an, die aus reinem Lirium bestanden und gleich wieder in sich selbst versanken. Kurz fürchtete sie, der Geist würde sie unter sich begraben oder verschlingen, doch nichts dergleichen geschah; lautlos schwenkte er die beiden Schweife, neigte dann den Kopf und streifte Hels Rippen. Ein Kribbeln erfüllte sie, als würde Sand durch ihren Körper fegen. Sonst war von der Berührung nichts zu spüren.
Der Junge trat zurück. »Bist du schon einmal von der Tiefe getragen worden?«
»Hä?«
»Hab keine Angst«, sagte er leise. Sie spürte seine Hände kaum. Im nächsten Moment hatte er sie hochgehoben und Hel landete mit einem Schreckenslaut auf dem Rücken des Wesens. Es war fest. Und weich. Bebend vor wolkiger Lebenskraft.
Der Junge saß hinter ihr auf und griff in die dichte Mähne, um sich festzuhalten. Wie Flammen aus Rauch schmiegten sich die Haare, die keine waren, um seine Finger.
»Dir wird nichts passieren, Hel. Das Land ist uns wohlgesinnt.«
»Was zum Henker heißt denn das schon wieder ...« Sonne und Wüste verloren sich irgendwo in einem fernen Himmel, der sich selbst zusammenfaltete und immer kleiner wurde. Hel trat in eine Schattenwelt.
Sie ritten auf dem Wesen, doch die Hufe schlugen nicht auf den Boden. Es war eins mit der Erde, verschmolz und entstand mit jedem Schritt. Sie schwebten auf dem Geschöpf wie auf einer Düne, den rauschenden Adern folgend, die es mit Leben nährten. Hel wagte keinen Blick über den Rand des Umhangs, der sie und den Jungen und vielleicht auch den Geist einhüllte, und doch sah sie aus dem Augenwinkel, wie die Umgebung vor Geschwindigkeit verwischte.
Auch ihre Gedanken begannen zu zerfließen. Ein Lymaerus erschien nur, wenn genug Lirium im Land war, und existierte sonst nicht einmal – so wie Feen, die im Himmel zu Hause waren und bei Liriumstürmen auftauchten. Sie nährten sich von Lirium. Konnte das Geschöpf unter ihr nicht durch bloße Berührung ihre Lebenskraft rauben und sie töten?
Aber Hel starb nicht, und auch ihr Licht, das sie ängstlich im Auge behielt, wurde nicht schwächer. Sie flogen lautlos durch die Wüste, waren die Wüste, und am Himmel jagte der Tag vorüber.
Hel hatte das Gefühl zu träumen. Und zu erwachen, als der Lymaerus plötzlich zu einer Staubwolke zerfiel.
»Ahhh!« Sie stürzte, doch im letzten Moment fing der Junge sie auf, und gemeinsam taumelten sie ein paar Schritte durch den aufwirbelnden Sand.
»Alles in Ordnung?«
Hel hätte schwören können, dass er belustigt klang. Am ganzen Leib zitternd, sah sie zu ihm auf, drehte sich um und strich sich verstört die Haare vor das Auge. »Wo ist der Lymaerus hin?«
»Er kann nicht weiter. Hier ist das Land tot. Komm«, sagte der Junge und zog sich die Kapuze über, die ihm beim Reiten in den Nacken gerutscht war. Sein Lächeln verschwand im Schatten. »Irgendwo wird das Land uns wieder tragen können.«
Mit weichen Knien setzte Hel sich in Bewegung. Ihr war, als sei sie aus einer Seifenblase geplatzt. Die Sonne stand bereits tief im Westen, dabei schienen nur ein paar Minuten auf dem Rücken des Lymaerus vergangen zu sein. Sie blickte zurück, konnte von den Kauenden Klippen aber nichts mehr erkennen, nicht einmal einen schwachen Umriss.
»Wie schnell reitet man auf einem Lymaerus?« Sie beeilte sich, den Jungen einzuholen.
»Das hängt vom Land ab.« Er warf ihr einen Blick zu. »Und von denen, die es trägt.«
Eine Weile gingen sie nebeneinanderher. Obwohl die heißeste Tageszeit vorüber war, brannte die Sonne noch auf jeder freien Fläche. Bestimmt musste er in der schweren Kleidung schwitzen. Hel spürte den heißen Boden durch die Sohlen ihrer Schuhe.
»Es war nicht das erste Mal, dass du auf einem Lymaerus geritten bist«, brach Hel das Schweigen wieder. »Oder? Ich wusste nicht, dass das überhaupt möglich ist. Ich kenne niemanden, der das kann.«
»Nein. Du kennst niemanden wie mich.«
Hel zog eine Augenbraue hoch. An Selbstbewusstsein mangelte es ihm offenbar nicht. Oder er meinte es ganz anders. Er schien alles irgendwie anders zu meinen.
»Ich habe auch nie jemanden gesehen, der solche Kleider trägt. Was bedeutet das Zeichen auf deiner -«
»Spar dir deine Kräfte.«
Hel schluckte und konnte sich gerade noch eine Entschuldigung verkneifen. Trotzig presste sie die Lippen aufeinander. »Na gut. Du willst nichts über dich erzählen. Ich dachte nur, wenn wir gemeinsam bis nach Har’punaptra reisen, wäre es vielleicht ...«
»Es gibt nichts zu erzählen.«
Hels Ohren begannen zu glühen. So, er gab sich also geheimnisvoll. Sollte er doch. Ihr war es schließlich gleich. Wahrscheinlich wollte er unerkannt bleiben, auch wenn er nicht so aussah, als wäre er von Rang. Hochgeborene liefen schließlich nicht allein und ohne Eskorte durch die Einöde. Eher schon Magier ... aber alle Magier, die Hel je gesehen hatte, trugen das Haar weiß. Außerdem hatten sie immer ihren Zauberstab dabei. Und meistens auch eine Eskorte.
Hel schüttelte diese Gedanken ab. Es interessierte sie nicht, wer er war und was er verschwieg. Sie wollte nur nach Har’punaptra, dort würden sich ihre Wege trennen. Sie hatte ganz andere Rätsel zu lösen.
Trotzdem ... sie würde sich vor ihm hüten müssen. Innerhalb eines Tages hatte sie gesehen, wie er Licht erzeugte, Wasser aus dem Boden holte und einen Geist beschwor. Es war unglaublich. Und unheimlich. Was würde als Nächstes kommen?
Auf den Dünen schmolz der Tag und Schatten wuchsen wie blutige Lachen unter ihren Füßen. Fern hallte das Echo von Vögeln wider, die in irgendeiner Schlucht um Beute kämpften. Das scharf umrissene Licht, die Trockenheit und ein vager Schmerz machten Hel ganz benommen. Nach dem Ritt auf dem Lymaerus kam sie sich schwer und langsam vor. Sie wollte etwas trinken. Ihr Auge pochte außerdem, sie war es nicht gewohnt, die zweite Sicht so lange zu benutzen. Vielleicht wollte sie den Jungen fragen, ob er ein Stück Silber hatte. Aber dann dachte er womöglich, dass sie nur ein neues Gespräch anfangen wollte.
Der Sonnenuntergang zog sich hin. So schnell die Zeit vorhin verflogen war, so träge verging sie jetzt. Der Durst quälte Hel mit jedem Schritt mehr, doch sie war zu stolz, um den Jungen um Wasser zu bitten. Außerdem drückte allmählich ihre Blase ... eigentlich musste sie ganz dringend, aber das wagte sie dem Jungen noch weniger zu sagen.
Endlich schwand der Tag. Kaum war das letzte Rot am Himmel verblasst, stieg die Kälte.
Während sie durch die Dämmerung wanderten, hielt Hel nach Leben Ausschau – nach Lirium ebenso wie nach Wesen aus Fleisch und Blut. Vielleicht entdeckte sie ein Schwebeschiff, irgendeinen Frachter, der Güter transportierte ... aber der Himmel blieb leer, und auch Lirium schimmerte ihr nirgends entgegen. Nur ganz fern, zwischen den Gebirgen, glomm hier und da etwas wie gefallene Sterne.
Bald wurde es so dunkel, dass Hel kaum mehr den Boden sah. Der Mond war ein weißer Klecks über ihnen, eher rund als sichelförmig und viel zu weit weg, um Licht zu spenden. Hel erinnerte sich, dass er viel schmaler gewesen war, als sie zuletzt auf der Schwalbe gestanden hatte. Und auch viel näher, vertrauter und schöner.
»Kannst du noch?«, fragte der Junge und sah zurück, ohne seinen Gang zu verlangsamen.