Er musste lächeln – sogar seine Zähne glänzten für einen kurzen Moment auf. »Schlaf gut«, beendete er das Thema.
»Du auch. Falls du schläfst.«
Das Licht erlosch. Hel hörte, wie er sich ausstreckte. Dann lagen sie still da, eingehüllt in das atemlose Schweigen der Wüste.
»Wie heißt du eigentlich?«, flüsterte Hel irgendwann, als ihr einfiel, dass sie ja seinen Namen noch gar nicht kannte.
Aber offenbar musste er doch wie ein gewöhnlicher Mensch schlafen, denn zur Antwort bekam sie nur sein ruhiges Atmen.
»Torah-yen-Hel... Hel, wach auf.«
Sie blinzelte und begegnete seinem Blick. Erschrocken fuhr sie zurück. Er saß vor ihr, einen Arm über das Knie gelegt, und sah sie an. Wer weiß, wie lange schon.
Sie räusperte sich und strich sich unauffällig Weste und Haare glatt. »Dir auch guten Morgen. Oder gute Nacht?« Es schien weder hell noch dunkel, die Umgebung war wie in Blei getunkt.
Er schnippte einen kleinen Stein weg. »Lass uns aufbrechen, solange es kühl ist.«
Hel nickte und rappelte sich auf. Obwohl sie im Umhang geschlafen hatte, war sie voller Sand. Müde rieb sie sich die Augen. Der Geschmack von Träumen versickerte in ihrer Erinnerung und hinterließ ein flaues Elendsgefühl. Erst nach einer Weile kam sie darauf, dass es wegen Gharra war – sie hatte von ihm geträumt, auch wenn sie nicht mehr wusste, in welchem Zusammenhang. Es kam ihr vor, als wäre er gerade hier gewesen. Seine Stimme hallte in ihr nach, aber sie hatte die Worte vergessen.
Ich werde ihn nie wieder hören. Wahrscheinlich ist er tot. Er kann es nicht überlebt haben. Aber wie konnte ich dann ...?
»Willst du etwas trinken?«
Sie schüttelte den Kopf, obwohl sie durstig war. Auf den brüchigen Steinen warfen ihre Schritte hohle Echos. Hel dachte an Klagerufe, wie sie bei Beerdigungen üblich waren. Gharra hatte nichts davon bekommen. Die ganze Mannschaft war ohne Grab, ohne Ruhe, verschüttet nur in Trümmern und Sand. Vielleicht hatten sie nicht einmal die Augen geschlossen. Vielleicht ... die Vorstellung war Hel unerträglich. Sie biss die Zähne zusammen. Sie hatte immer gefürchtet, alle Menschen, die sie liebte, auf die Art zu verlieren – verschluckt vom Land. Die Albträume so vieler Nächte waren wahr geworden. Oder hatten sich wiederholt ...
Hel spürte eine dunkle Schwere in sich wachsen, die seit dem Unfall in ihr lauerte. Das Atmen fiel ihr schwer. Was tat sie hier überhaupt noch?
Und wieso habe nur ich überlebt?
Und wie?
Die Dämmerung wollte nicht voranschreiten. Das Grau schien leibhaftig, ein grob gewobenes Tuch, das bei jedem Schritt mitwehte. So gingen sie die schmale Klamm entlang, bis die Felsen immer höher wurden. Aus der Klamm wurde eine Schlucht. Endlich ging die Sonne auf und goss Licht über die Klippe. Die Dunkelheit schrumpfte zu einem dreieckigen Schattenvorhang.
»He ... also, wie heißt du eigentlich?«
Der Junge wandte sich ihr zu. »Hast du jetzt Durst?«
Hel schnaubte. »Das ist wohl deine Antwort auf alles. Nein übrigens. Aber vielleicht nenne ich dich so: Hastdu-Durst. Dann würden wir immer dasselbe sagen wie im Chor.«
Er drehte sich einfach wieder nach vorne. Hel aber ließ nicht locker. »Als du mich gefunden hast«, sagte sie mit belegter Stimme, »hast du da das ganze Schiff durchsucht?«
Er beäugte sie misstrauisch. »Das Schiff war zerstört.«
»Aber vielleicht war noch jemand am Leben. Hast du nicht nachgesehen?«
Er ging ein wenig langsamer. »Ich bezweifle, dass jemand überlebt hat. Es sei denn, auf dem Schiff war noch jemand wie du.«
»Was meinst du?«
»Jemand wie du«, wiederholte er ruhig. »Ein ... Wunder.«
Das Wort traf Hel. Monster, das war, was er eigentlich sagen wollte und ›Wunder‹ nannte. Ein einäugiges Monster, das einfach nicht totzukriegen war.
Stur blickte sie zu Boden und erwiderte nichts. Wahrscheinlich lag er sogar richtig. Ein Wunder, das hatten auch die Zwerge damals gesagt. Sie hätte schon früher sterben sollen. Eine tödliche Kopfwunde hatte sie nicht umgebracht und ein Sturz aus dem Himmel und fressender Sand auch nicht. Sie sah nicht nur wie ein Monster aus, sie war eines.
Nein, keiner hatte den Absturz überlebt außer ihr. Es war unmöglich, so etwas zu überleben. Unwillkürlich schloss sie die Hände um ihre Rippen, die kaum mehr schmerzten. Nicht mehr, als hätte sie blaue Flecken.
Der Junge beobachtete sie aus den Augenwinkeln. Er wusste, welche Geheimnisse er hütete. Hel aber war sich selbst ein Rätsel.
»Sieh mal.«
Sie hob den Kopf. Dort, wo die Schlucht eine Biegung machte, kroch Leben durch das Gestein. In den Schatten stand ein Lymaerus.
Er wartete. Geduldig schwebten drei, bald zwei Schweife durch die Luft, ein Wolkenkörper aus müden Flammen. Hel hielt die Luft an, als sie näher kam. Ob es derselbe Lymaerus war? Sie bezweifelte, dass es überhaupt einzelne Wesen gab, wo nicht einmal Körper waren. Dennoch war der Lymaerus viel kleiner als gestern, der Schädel kantiger und die Beine ungleich zarter. Das lag an der Umgebung: Hier war das Leben kaum mehr als ein gelegentliches Glimmen.
Der Geist schien sie zu beobachten, mit Augen, fern und doch durchdringend wie Sonnen. Hel konnte sich nicht helfen – sie musste sich ein wenig verbeugen. Der Lymaerus mochte stumm sein, vielleicht auch frei von Gedanken und Gefühlen, und doch war er ihnen erhaben. Himmel und Land fanden in ihm zusammen. Ihn zu sehen, bedeutete ein Blick auf die Ewigkeit. Er war heilig, dachte Hel, und sie wunderte sich, dass sie dieses Wort nie zuvor mit Geistern in Verbindung gebracht hatte, obwohl es doch so offensichtlich war.
Er glitt auf sie zu. Die flammende Mähne wuchs Hel beinahe von selbst in die Hände. Ohne ihr Zutun rauschte das Wesen unter ihnen hindurch und im nächsten Moment saßen sie auf seinem Rücken, im Wirbel einer Flucht vor Zeit und Wirklichkeit.
Der Lymaerus verwandelte sich. Hel spürte, wie der Körper sich immer neu formte wie Wolken an einem windigen Tag. Mal schien er zu wachsen und bäumte sich auf, dass die Erde unter ihnen versank und Hel Angst bekam, im Sturm der Magie zerrissen zu werden – dann wieder fiel er in sich zusammen, strauchelte und schlängelte über den Boden, als müsse er sich dicht an ihn pressen, um das geringe Leben zu finden. Mehrmals krampfte Hel sich in Erwartung eines Sturzes zusammen – doch der Geist löste sich nicht auf. Er trug sie rastlos dem Horizont entgegen, hetzte Lirium durch Schluchten und Täler nach wie einer Blutspur.
Hel hielt sich an der Mähne fest, doch nur die Finger des Jungen versanken ganz in der wilden Nebelmasse. Bis zu den Ellbogen umschlangen ihn manchmal die haarfeinen Flammen, und es war schwer zu sagen, ob sie sich an ihn schmiegten oder er sich an sie. Hel beobachtete mit der zweiten Sicht, wie der Geist das Licht des Jungen berührte ... einmal schien es, als ströme die Magie zu ihm über, dann wieder stellte Hel starr vor Schreck fest, wie sein Licht, sein Leben, in den Lymaerus überging. Doch immer wenn Hel glaubte, der Junge müsste sterben, hörte es wieder auf. Wusste der Junge davon? Lenkte er es gar? Irgendwie musste er doch mit dem Lymaerus sprechen können, damit er sie nach Har’punaptra brachte ...
Seine Arme und sein Umhang umschlossen Hel, er war ihr so nah, dass sie seinen Atem auf ihrer Schulter hätte spüren können, wenn der rauschende Wind ihn nicht geraubt hätte. Und zugleich war er kaum vorhanden, denn was hatte er ihr schon von sich gegeben? Nur eine leise Stimme, ein flüchtiges Gesicht im Schatten.
Die Stunden flogen dahin, lautlosen Hufschlägen gleich. Blauer Himmel wurde violett. Vereinzelte Sterne leuchteten auf, doch ihr Glanz verblasste im Schimmern des Lymaerus.
Wenn es genug Lirium gab, würde er ohne Pause weiterjagen. Hel fürchtete, dass die Zeit dann nie wieder aufhören würde, so zu rasen, bis die Welt für immer hinter ihnen zurückblieb.