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Doch dann verschwand der Lymaerus. Es geschah viel sanfter als letztes Mal, auch weil Hel nun vorbereitet war. Der Körper sackte in sich zusammen, wurde langsam und zerstäubte schließlich zu einem Sandwirbel. Hel und der Junge stolperten ein paar schwungvolle Schritte.

Danke ... und bis bald, dachte Hel. Falls sie den Lymaerus wiedersah. Es war durchaus möglich, dass Geister mit dem Land starben. Sie schauderte. Nachher würde sie den Jungen fragen.

Traumtrunken vom langen Ritt gingen sie nebeneinanderher. Der Mond hatte zugenommen, sein Licht kam Hel unnatürlich strahlend vor. Die Gebirge wirkten wie an den Himmel gemalt, so flach und gleichmäßig. Hel atmete tief durch. Es war ganz still.

Nach einer Weile wurde ihr bewusst, dass sie ziemlich weit von den Klippen abgekommen waren. Gut eine halbe Meile lag zwischen ihnen und den schroff aufragenden Felsen.

»Wir sollten hinübergehen«, sagte sie und nickte in die Richtung. »Da sind wir geschützter.«

Sie schlugen den Weg ein. Bald fanden sie einen Spalt in den Felswänden, in dem sie übernachten konnten. Weil es eine helle Nacht war, machte der Junge kein Licht. Sie teilten sich den Wasserschlauch und diesmal aß der Junge auch einen Bu’khen. Nur noch vier waren jetzt übrig. Hätte Hel ihrem Hunger nachgegeben, sie hätte alle auf einmal gegessen. Wie lange sollten sie noch mit der Wegzehrung auskommen?

Nebelhaften Sorgen nachhängend, legte Hel sich zum Schlafen. Der Umhang war ihr ein Trost, sie fühlte sich geborgen in dem dunklen Stoff, als könne er sie vor allen Gefahren der Wirklichkeit schützen. Woher nur kannte sie diesen Geruch ...

Diesmal war es der Junge, der das Schweigen brach, als sie dalagen, nah und unsichtbar in der Dunkelheit.

»Was willst du eigentlich in der Zwergenstadt?«

»Ich weiß es nicht«, flüsterte Hel nach einer Weile zurück. Sie starrte in die Nacht hinaus und die Nacht erwiderte ihren Blick mit derselben Ratlosigkeit. »Ich ... habe alle verloren. Mir bleibt nur die Frage: Warum? Ich will eine Antwort.« Sie wollte Luft holen, wollte, dass der Druck von ihrer Brust verschwand, doch sie konnte nur daliegen. Sie vergrub ihre Finger im weichen Stoff. »Und wenn ich die Antwort finde, dann habe ich wirklich nichts mehr.«

»Ist es das, was du willst? Das Nichts?«

Ein süßes Brennen flammte hinter ihren Augen auf, aber es kamen keine Tränen. »Ich will ... ich weiß es nicht.«

Der Junge schwieg, als warte er mit ihr darauf, dass sie endlich wieder Luft holen konnte.

»Was meinst du«, flüsterte er dann, »was besser ist? Leiden oder gar nichts?«

Hel versuchte zu verstehen, was er meinte. »Was heißt schon leiden. Ich weiß jetzt, wie sich Verzweiflung anfühlt. Und ... Wut und Ohnmacht. Aber ich könnte alldem entgehen, wenn ... wenn ich sterben würde. Leiden heißt für mich, dass es keinen Ausweg gibt. Man kann nicht einmal sterben.«

»Dann ist das Nichts besser.«

»Was ist denn Nichts? Der Tod? Niemand kann das Nichts kennen, denn wo nichts ist, gibt es auch keinen, der es erleben kann.«

Er schwieg. Sie hätte gerne gewusst, was in ihm vorging und wie er auf diese Dinge kam.

»Vielleicht gibt es gar kein Nichts«, fuhr Hel flüsternd fort. »Und vielleicht gibt es auch kein Leiden.«

»Kein Leiden und kein Nichts?« Er sprach so leise, dass sie ihn kaum hörte, winzige Geräusche zwischen Lippen und Zunge. »Die Welt ist doch aus diesen beiden Dingen gemacht.«

»Es gibt nur Leben und Tod. Keins von beidem ist das Nichts, und noch weniger sind sie Leid.«

Der Junge schwieg lange. »Du sagst Unwahrheiten, die trotzdem weise klingen. Ich war nicht darauf gefasst.«

»Was meinst du?«

Sie hörte, wie er sich vom Rücken auf die Seite drehte, sich ihr zuwandte, obwohl er sie nicht sehen konnte. Oder doch? Sie dachte an seine Augen, das rätselhafte Blau und Grau, das irgendwo ganz nah im Finsteren lag. »Ich war nicht darauf gefasst, dass ich zweifeln würde.«

Auch sie wandte sich ihm zu, starrte sein Licht an, das weich im unendlichen Tod ringsum schimmerte. Nie zuvor hatte sie sich so danach gesehnt, ihre zweite Sicht mit jemandem teilen zu können wie jetzt, in diesem Augenblick – wenn er doch ihr Licht sähe, so wie sie seines ... dieses eine Mal.

»Wie heißt du?«

»Wieso bedeutet ein Name dir so viel?«

»Sag es mir.«

»Heißt du denn wirklich Hel?«

Sie erstarrte. Woher konnte er das wissen ...?

»Sieh nach oben. Siehst du den Stern da, etwas abseits neben den vier großen Sternen im Norden? Er ist nur in manchen Nächten sichtbar. Nach diesem Stern bin ich benannt.«

Sie sah hinauf. »Ich weiß aber nicht, wie er heißt.«

»Ich weiß. Nur die, die mich nach ihm benannt haben, kennen seinen Namen.«

Sie wollte ihn einen dummen Witzbold nennen. Stattdessen aber beobachtete sie den Stern, der dort im tiefen Himmelsschwarz leuchtete, musste lächeln und sich wundern.

Die Windige Stadt

Hel erwachte aus bleischweren Träumen, die sofort untergingen. Der Felsspalt war leer.

Verwirrt richtete sie sich auf. Eine Eidechse huschte vorbei und verschwand in einer Ritze. Hel spähte nach draußen. Erleichtert entdeckte sie eine Gestalt, die reglos in der Dämmerung stand.

Wie schon einmal hatte er die Handflächen gen Osten ausgestreckt und schien zu warten oder zu beten. Das Haar fiel ihm offen auf die Schultern. Hel zog die Knie an und beobachtete ihn.

Minuten verstrichen. Falls er tatsächlich ein geheimes magisches Ritual abhielt, spielte es sich nur in seinem Kopf ab. Kein Wort kam über seine Lippen, nicht einmal mit den Augen blinzelte er. Als die Sonne aufging, legte er die Hände über Kreuz auf die Schultern, neigte den Kopf und kniete nieder. Gewiss würde er wieder Wasser aus dem Boden fließen lassen, dachte Hel und wartete gespannt ab.

Doch dann erhob er sich, band seine Haare zurück, machte ein Zeichen mit der Hand – und das war alles. Er kehrte zum Felsspalt zurück.

Hel krabbelte heraus und stand auf. »Was hast du da gemacht?«

Sein Gesicht blieb verschlossen. Er nahm den Umhang entgegen, den Hel ihm reichte, und warf ihn über. »Lass uns gehen.«

»Wolltest du wieder Wasser zaubern?«

Diesmal gab er ihr nicht einmal eine unpassende Antwort und ging einfach los.

Gestrüpp klapperte im Wind wie abgemagerte Kinder, die man einfach ausgesetzt und vergessen hatte. Nirgends sah Hel einen Funken Lirium. Erst weit im Süden und tief unter der Erdoberfläche glomm eine dünne Ader Leben, doch sonst war alles ausgestorben. Selbst die Gebirge hatten sich bis in die Ferne in mächtige Grabsteine verwandelt. Einerseits war das gut, denn sie mussten keinen Angriff fürchten, und auch die zweite Sicht belastete Hel nicht wie sonst. Aber andererseits ...

»Ich glaube kaum, dass der Lymaerus heute auftaucht«, murmelte Hel halb zu sich selbst.

»Woher weißt du das?«

Hel suchte nach einer glaubwürdigen Erklärung, als sie merkte, wie sehr ihr eigenes Schweigen ihr gefiel. Sie lächelte triumphierend. »Wie kannst du mit dem Lymaerus sprechen?« Vielleicht ließ er sich ja auf ein Tauschgeschäft ein – ihre Antwort gegen seine.

»Ich spreche nicht mit ihm.«

»Aber du musst ihm doch sagen, wohin er uns bringen soll.«

Er schüttelte den Kopf. »Menschen sprechen. Das Tief ... das Leben braucht keine Worte.«

Hel seufzte. Ihre Gedanken wanderten zu anderen Dingen und landeten bald wieder bei Gharra, der Schwalbe und den Sturmjägern.

»Hast du eigentlich gesehen, wie das Schiff abgestürzt ist?«

Es verging ein Moment, ehe er sagte: »Ich habe die Trümmer gesehen.«

Hel kaute auf ihrer Unterlippe. Nur die Magier in Aradon würden ihr sagen können, wie der Angriff zu erklären war. Außerdem würde die Magierschaft mindestens so interessiert daran sein wie Hel, den Fall zu lösen, schließlich hatte das Schiff ihnen gehört. Den Verlust würden sie nicht einfach hinnehmen.