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Der Morgen verstrich und die Hitze fiel über sie wie ein Glutregen. Das Licht stach Hel in den Augen, selbst wenn sie sie halb geschlossen hielt. Am Rand der Klippen hatten sie nur einen schmalen Streifen Schatten, und sie hüteten sich, ihn zu überschreiten.

Als sie eine Öffnung in den Felsen fanden, taumelten sie ohne Absprache hinein und sanken zu Boden. Der Junge lehnte sich schwer atmend gegen die Wand.

»Lass uns eine Stunde rasten«, murmelte er. »Nur die Hitze abwarten.«

Hel wischte sich die Haare aus der Stirn und legte sich hin. Ihr Kopf wummerte. Aber hier, nah am Boden, war es kühler ... sie sank in einen schwindeligen Schlaf. Kaum ein Herzschlag schien verstrichen, als der Junge sie sacht am Arm berührte.

»Lass uns weitergehen.«

Sie tranken noch. Hel musste all ihre Beherrschung aufbringen, den Schlauch nicht in einem Zug zu leeren.

Der Weg wurde erträglicher, als Hel sich vorstellte, dass jeder Schritt sie nicht nur Har’punaptra näher brachte, sondern auch dem Sonnenuntergang, dem Ende dieses Jahre umfassenden Tages. Sie hatten noch nichts gegessen, doch sobald sie etwas zu sich nahm, würde sie erschöpft zu Boden sinken.

Als die Sonne endlich im Westen verschwand, sammelten sie noch einmal ihre letzten Kräfte, durchschritten die Dämmerung und den Abend bis zum Einbruch der Nacht. Als der Mond aufging, ließen sie sich einfach nieder, wo sie gerade waren, aßen ihre Tagesration und tranken noch ein paar kostbare Schlucke.

»Wieso hast du heute kein Wasser aus dem Boden geholt?«, fragte Hel, als die Nahrung sie angenehm füllte und schläfrig machte. »Es liegt daran, dass das Land hier tot ist, stimmt’s?«

Sein Blick durchdrang sie.

»Ich kann sehen, dass das Land tot ist.« Sie zuckte die Schultern. Es gab keinen Grund, es zu verschweigen. Doch anders, als sie erwartet hatte, hakte der Junge nicht nach. Er schien nicht einmal überrascht.

Schließlich stand er wieder auf. »Wir sollten weiterlaufen. Dann können wir tagsüber schlafen.«

Hel nickte, auch wenn es sie Überwindung kostete, wieder auf die Beine zu kommen. Taub vor Erschöpfung schlichen sie durch die Nacht, immer weiter, weiter. Der Junge gab ihr seinen Umhang gegen die Kälte. In der Finsternis beklagte der Wind die Unendlichkeit.

Zwei Tage verstrichen so. Hel kamen sie vor wie ein ganzes Leben. Sie aßen die übrigen Bu’khen und das Tuch flatterte in einen gähnenden Himmel davon. Der letzte Tropfen fiel vom Rand des Wasserschlauchs, als der zweite Tag zur Neige ging. Noch immer war das Land ohne Lirium.

Dann, am dritten Morgen, entdeckten sie Leben. Doch nicht im Boden.

Im Schatten der Gebirge lag eine Stadt.

»Hast du überhaupt genug Geld?«

»Ich kann bezahlen.«

»Und eine Waffe?«

Er verzog belustigt den Mund. »Ich werde uns beschützen können.«

Hel musterte ihn skeptisch. Ein hübsches Lächeln war nicht unbedingt die beste Voraussetzung, um in eine Windige Stadt zu marschieren. Es hieß, überall, wo die Stadtlager abgerissen wurden, hinterließen sie eine Grabstätte – und in dem Gerücht steckte ein wahrer Kern, wie Hel wusste. Ein ziemlich großer wahrer Kern. Die Städte verschwanden nur, wenn ein Kampf sie zerstörte, was meistens nicht lange dauerte.

»Hoffentlich weißt du, was du tust«, murmelte Hel. Sie rieb sich über das Gesicht und blickte nervös zu den weißen Zelttüchern und Holzwällen hinüber, die im Morgenlicht leuchteten wie gebleckte Zähne. »Zu zweit in eine Windige Stadt, ganz ohne Waffen ... Denk dran: Ich bin für die uninteressant, jemand mit deinen Fähigkeiten hingegen bringt auf dem Schwarzmarkt ein Vermögen. Du hast mehr zu verlieren als ich.«

»Wir werden beide nichts verlieren«, beruhigte er sie und ging los. Hel blieb nichts anderes übrig, als ihm zu vertrauen. Wenn sie nicht bald Wasser und Nahrung bekamen, würde die Wüste tödlicher sein als alle Windigen Städte zusammen. Hels Magen fühlte sich so hohl an, dass ihre Füße den Boden nur zu streifen schienen. Dennoch sträubte sich alles in ihr, den Zelten näher zu kommen.

»Ich hab nicht mal einen Finger Lirium, verdammt, nicht mal einen Dolch! Sieh bloß niemandem zu lange in die Augen. Hörst du? Sag am besten gar nichts. Überlass mir das Reden.« Sie atmete tief durch. Am Eingangstor hatte man sie längst bemerkt: Zwei Datteln kauende Männer standen auf und zogen Lanzen aus dem Boden. In der Hitze flackerten ihre Gestalten wie dunkle Flammen.

»Was habt ihr hier zu suchen?«, rief eine der Wachen und spuckte einen Kern aus. Hel, die von den Sturmjägern einiges an Umgangsformen gewöhnt war, wusste, dass die Feindseligkeit nicht ihnen persönlich galt.

»Wir sind Durchreisende! Wir brauchen Proviant.«

Inzwischen waren sie auf Lanzennähe herangekommen. Unmerklich berührte Hel den Jungen am Arm, damit er stehen blieb.

»Habt ihr Waren dabei, die ihr hier feilbieten wollt?«, fragte der Wächter.

Hel schüttelte den Kopf. Jetzt fiel den Wachen ihr Auge auf. Einer von ihnen wich deutlich zurück, dem anderen begann ein Grinsen um den Mund zu zucken.

»Eintritt ist kostenlos, aber bei Verlassen wird der Aufenthalt und jedes erworbene Gut besteuert. Ihr solltet also Geld haben oder drinnen welches verdienen. Sonst gehört ihr der Stadt, bis die Schulden beglichen sind. Verstehen wir uns?«

Hel nickte, dass ihr die Haare wieder über das Auge fielen, und schielte zu dem Jungen auf.

»Einverstanden«, sagte er so leise, dass Hel ihn nur schwer verstand. Dann gingen sie durch das Tor.

Hel hörte die Männer hinter sich lachen. »Proviant! Wohl eher das Spektakel hat die hergelockt.«

»Die verlieren ihr Geld beim ersten Wetteinsatz!«

Sie betraten einen Ring aus Zelten und abgedeckten Ständen. Menschen drängten sich auf der schmalen Straße und unter den Planen. Tee und Datteln wurden auf niedrigen Tischchen serviert; nebenan gab es Hängematten und Kinder mit Fächern, falls man den Tag in angenehmer Kühle fortschlafen wollte. Hinter gefärbten Tüchern wurde auch geraucht und gewürfelt und das ein oder andere Geschäft abgeschlossen. Händler boten lautstark Raubgut feil, verhandelten mit Kunden oder stritten sich mit anderen Händlern. Unter den Planen blitzten aus allen Ländern stammende Schätze – Kleinodien aus den Grabkammern von Königen, kostbare Smaragdbroschen und Rubinringe, dazwischen Haarnadeln aus Glas und Muschelketten. Ein einzelner mit Gold verzierter Schuh. Kleider aus teuerster Spitze, am Saum mit dunklem Blut befleckt. In einer langen behelfsmäßigen Scheune waren zwei Dutzend dunkle Pferde und lärmende Männer, die Wetten auf ein Rennen abschließen wollten und die Tiere inspizierten. Neben dem Hufschmied arbeitete ein Wundheiler auf offener Straße und schmierte eine bitter riechende braune Paste auf den geschwollenen Fuß einer Kriegerin.

Hel ließ ihren Blick über die Geschäftigkeit irren, um jeder möglichen Gefahr rechtzeitig auszuweichen, doch das Treiben unter den Tuchdächern war viel zu unüberschaubar. Noch dazu überzog die zweite Sicht die Welt mit einem grellen Flimmern: Überall war Leben, überall Licht und Lirium. Neben Tieren und Menschen auch magische Gegenstände – Leuchtkugeln, verhexte Klingen, Weckmuscheln, Feenlichter, unzerstörbare Rüstungen, ein ganzer Stand voller Trolle, Gnome und Pixies, die eine Silberkiste umschwirrten, in der ihre Freiheit in Form von Füßen, Herzen, Händen und anderen Körperteilen bis zum Verkauf lagerte. Hel presste die Augen zu. Aber das Leuchten und Blitzen ließ sich dadurch natürlich nicht ausblenden. Es war zu viel. Übelkeit stieg in ihr auf, wie immer, wenn sie an belebten Orten die zweite Sicht benutzte. Das Stechen hinter ihren Augen durchwanderte langsam, aber unaufhaltsam ihren Kopf, schob sich ihren Nacken hinab und umkrallte ihren Magen wie eine kalte Faust.