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Atme. Denk nur ans Atmen.

Wie von selbst suchte ihre Hand den Jungen und hielt sich an ihm fest. Er stützte sie, ohne nachzufragen.

»Hier ist ein Brunnen«, murmelte er irgendwann. »Wir können Wasser kaufen.«

Seine Worte drangen durch das Dickicht der Lichter zu ihr durch. Hel zwang sich, die Augen aufzumachen. Einen Moment schien die Welt unter ihren Füßen wegzurutschen, dann bezwang sie den Schwindel. Tatsächlich war da ein Brunnen. Schwere Felsen beugten sich darüber und es war schattig. Drei Frauen schöpften das Wasser aus der Tiefe, um es für ein Kupferstück pro Eimer zu verkaufen.

Hel fixierte die toten Felsen. Der Junge bückte sich, ohne ihren Arm loszulassen. Hatte er etwas fallen gelassen? Wahrscheinlich. Egal. Nicht wert, dafür den Blick von den angenehm ruhigen Felsen zu wenden.

Dann waren sie an der Reihe.

»Voll.« Er gab den Frauen seinen Wasserschlauch.

»Das macht ein Kupferstück.«

Der Junge nahm den gefüllten Wasserschlauch entgegen und hängte ihn an seinen Gürtel zurück. Gleichzeitig hielt er den Frauen seine Handfläche hin. »Hier, ein Kupferstück.«

Die Frauen blickten in seine Handfläche. Auch Hel sah kurz hin. Tatsächlich glänzte dort eine Kupfermünze, glatt und rund wie frisch aus der Schmiede. Eine der Wasserfrauen nahm sie und reihte die Münze auf den Geldring, den sie am Gürtel trug.

»Komm.« Der Junge führte Hel am Ellbogen weg. Als sie sich noch einmal umdrehte, sah sie, wie ein kleiner Stein neben die Füße der Frau klapperte.

»Jetzt brauchen wir noch etwas zu essen. Du kennst dich besser aus als ich, such du etwas aus!«

Hel sah ihn misstrauisch an. Er drehte sich neugierig nach allen Seiten. Vielleicht ein wenig zu neugierig ... Erst als der Brunnen hinter der Straßenbiegung verschwunden war, verlangsamte er seinen Schritt wieder. Er löste den Schlauch vom Gürtel, führte ihn halb zum Mund und entschied sich im letzten Moment, Hel den Vortritt zu lassen. Er war doch vorhin noch nicht so nervös gewesen.

Hel trank und vergaß einen Moment lang ihren Argwohn. Wie süß das Wasser schmeckte! Ihr war, als würde das Leben in sie zurückkehren und die Übelkeit wegspülen. Nach ihr trank der Junge in langen Zügen.

Sie setzten ihren Weg fort. Die Straße bildete eine Spirale, die Runden verkürzten sich. Je näher sie dem Stadtkern kamen, umso lauter und überfüllter schien es zu werden. Hel versuchte, die zweite Sicht zu ignorieren oder zumindest zu ertragen, während sie nach Proviant Ausschau hielt. Es gab gedörrtes Fleisch, gebratene Skorpione und Schlangen; an einem Schlachtstand lag ein halber Sandwurm auf einem Tisch und wurde aus dem Panzer geschält und in gleiche Teile geschnitten, jedes breit wie der Brustkorb eines Mannes.

»Was ist das?«, murmelte der Junge.

»Das weißt du nicht? Na, das willst du auch gar nicht wissen. Komm, hier gibt es Fladen!«

Sie liefen zu einem alten Mann, der Fladen in großen geflochtenen Körben verkaufte. Sie waren zwar nicht so lange haltbar wie Trockenbrot, schmeckten dafür aber viel besser. Manchmal hatten sie welche auf der Schwalbe gehabt. Nicht ohne Wehmut suchte sie zehn fingerdicke Fladen aus, ließ sie in ein Tuch schlagen und übergab sie dem Jungen, der sie in der Tasche unter seinem Umhang verschwinden ließ.

»Zwei Kupferstücke«, sagte der Bäcker. »Hast du denn noch genug Geld, damit wir später rauskommen? Es gibt doch eine Steuer am Tor«, raunte Hel dem Jungen zu.

»Keine Sorge. Hier sind zwei Kupferstücke!« Der alte Mann nahm sie misstrauisch entgegen, steckte sie aber in seinen Lederbeutel.

Wieder zog der Junge Hel weiter. »Brauchen wir noch etwas?«, fragte er und klang merkwürdig eifrig. »Was sind das für verschrumpelte Dinger, die alle essen?«

»Datteln kennst du auch nicht?«

»Magst du sie?« Sie sah ihn unter der Kapuze lächeln. Wenn er lächelte, zog er den rechten Mundwinkel immer ein wenig höher als den linken. Er hatte ein Grübchen in der Wange.

»Ja, schon, aber haben wir denn genug ...?«

Bevor Hel es verhindern konnte, war er zu einem Dattelverkäufer getreten und verlangte ganze drei Pfund daumengroße, süße Datteln. »Hier. Drei Kupferstücke.«

»Bist du sicher, dass du genug Geld hast?«, wiederholte Hel besorgt.

»Ich bin gespannt auf diese Datteln. Sie sehen sehr seltsam aus.«

»Und ich dachte immer, Händler achten auf ihr Geld.« Er schenkte ihr wieder das schiefe Lächeln und wirkte plötzlich viel jünger. Hatte nicht auch seine Stimme heller geklungen?

Irgendwo setzten Trommeln ein. Jemand blies eine Fanfare.

»Was ist das?«, fragte der Junge.

Hels Herz schlug schneller. Lärm bedeutete selten Gutes. »Lass uns gehen.«

»Es kommt vom Ende der Straße.« Schon hatte er sich in Bewegung gesetzt.

»He ... komm, du hast deine Datteln und auch alles andere. Gib nicht noch mehr aus, wir wissen nicht, wie hoch die Steuern ...«

Vor ihnen tauchte ein runder, von Holzlatten umzäunter Platz auf. Die mächtigen Felsen warfen ihre Schatten nur zur Hälfte darüber; ein Großteil des Platzes kochte in Sonnenlicht. Unter dunkelroten Stoffbahnen tummelten sich Zuschauer.

Die Trommeln erstarben und Jubelrufe wogten aus der Menge. Der Junge schob sich bis zur Umzäunung vor, Hel folgte ihm mit einem unguten Gefühl.

Wie sie vermutet hatte, wurde ein Kampf veranstaltet. In vielen Städten waren Gladiatorenkämpfe verboten – nicht wegen des öffentlichen Tötens, sondern wegen des Wettgeschäfts, das sich darum rankte. Natürlich nahm man es hier nicht so genau damit. Munter wurde getötet, gewettet und betrogen. Hel stieg auf die Zehenspitzen. Doch sie entdeckte keine Gladiatoren auf dem Platz – sondern drei Trolle. Eisenketten verbanden ihre Füße miteinander, sodass sie sich bei jedem Schritt gegenseitig aus dem Gleichgewicht brachten. Nervös vom Lärm und dem schräg einfallenden Licht stolperten sie im Kreis, stießen dumpfes Gebrüll aus und schlugen aufeinander ein.

Unter tosendem Applaus liefen fünf Krieger durch einen Einlass auf den Platz. Sie trugen Helme, Lederharnische und Beinschienen, die mit Lirium gegen Zerbrechen gesichert waren, wie Hel sah – auch ihre Klingen waren durch Magie verstärkt. Visiere mit unheimlichen Zügen maskierten die Gesichter.

Dadurch entdeckte man die zwei Frauen unter den Kämpfern nicht gleich. Die eine war mit einer Doppelaxt bewaffnet, die Hel in dieser Länge noch nie erblickt hatte. Die andere schwang in jeder Hand ein Kurzschwert. Doch die wahre Attraktion war ein Mann aus dem Isenvolk.

Seine Haut war dunkel, wenn auch nicht ganz so dunkel wie Jurebas. Das lockige schwarze Haar war lang, für den Kampf jedoch zurückgebunden. Er war der Einzige, der keinen Helm trug. Das kantige Gesicht war von einer Narbe gezeichnet, die vom Nacken bis zur scharf hervorstechenden Nase führte. In den Händen hielt er ein Araidann, ein Isenschwert: Die Klinge war gekrümmt und hatte einen stumpfen Rücken wie ein Säbel. Dafür war die Schneide so scharf, dass sie bei bloßer Berührung Stoff und Haut durchtrennen konnte, jedenfalls hatte Hel das gehört. Araidann waren sehr selten und wertvoll. Hel hatte noch nie eines der kostbaren Isenschwerter aus der Nähe gesehen, geschweige denn berührt.

Mit hellgrünen Augen durchstreifte der Ise das Publikum und wandte sich dann den Trollen zu. Die Kämpfer verteilten sich um den Platz und zückten kleine Flakons mit Lirium.

»Was passiert hier?« Trotz des erwartungsvollen Lärms hörte Hel den Jungen so deutlich, als seien all die anderen Stimmen nur Windrauschen.

»Lass uns gehen«, drängte sie, denn sie wusste, was nun kommen würde.

Fast gleichzeitig bliesen die Krieger ihr Lirium. Überall wogten Schreie auf.

Schmerzgebrüll aus den Liriumwolken.

Jubelschreie aus den Zuschauerreihen.