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»Komm, oder willst du dir das ansehen?«, fragte Hel gereizt. Sie fand nichts Unterhaltsames am Schmerz anderer, ob es nun Menschen waren oder Trolle. Das Lirium sollte sie zwar nur aggressiv machen, doch es stand außer Frage, dass sie im Turnier sterben würden. Wahrscheinlich gab es ein Preisgeld für den, der einen Troll zur Strecke brachte. Eine der vielen Zerstreuungen, denen man in Windigen Städten nachging, und gewiss nicht die brutalste.

»Komm jetzt«, wiederholte Hel. Als sie versuchte, ihn wegzuziehen, war er plötzlich seltsam starr.

Der Kampf begann. Blind vor Zorn schlugen die Trolle um sich, trafen anfangs nur einander und sorgten für Gelächter. Dann wagten sich die Krieger vor. Das Schwert des Isen erwischte einen Troll im Rücken. Als die Klinge seitlich wieder herausfegte, regneten Blutstropfen in den leuchtend blauen Himmel. Leichtfüßig wich er der Faust des Trolls aus. Hel wurde schlecht.

»Die schlafen ja!«, brüllte jemand aus der Menge.

»Gebt den Lämmern was zu schnuppern!«, forderte ein anderer. Einer der Trolle begann, die Krieger zu jagen, und zerrte die anderen beiden mit. Krachend schlugen sie neben dem Zaun zu Boden. Die Menge, die sofort zurückwich, sammelte sich blitzschnell wieder johlend in der vordersten Reihe. Jemand blies Lirium auf die liegenden Trolle.

Ein Beben lief durch die Erde. Erst dachte Hel, es sei nur das Brüllen der Trolle. Niemand sonst schien es zu bemerken. Dann passierte etwas, das sie nur mit der zweiten Sicht wahrnahm.

Überall begann Lirium zu zucken. Auf den ersten Blick änderte sich nichts. Sie sah sich um. In Jackentaschen, Stiefeln, unter Schaltüchern und Hemden kochte Lirium in unzähligen Flakons. Es war, als hätte ein Windstoß die Magie in Unruhe versetzt. War Hel verrückt geworden?

Dann geschah alles rasend schnell.

Eine Detonation erschütterte die Welt, unsichtbar, lautlos. Auf einen Schlag zerbarsten mehr als hundert Finger Lirium.

Menschen flogen durch die Luft, rissen die Tuchbahnen um und sprengten Löcher in die Menge. Chaos brach aus. Das Kreischen der panischen Masse war nicht mehr zu unterscheiden von den Schreien derer, die in die Explosionen geraten waren. Alles stürzte in verschiedene Richtungen.

Hel spürte kaum, dass sie mitrannte. Der Junge taumelte an ihrer Seite, hielt sie fest und stützte sich zugleich auf sie. Die spiralförmige Straße hatte sich in eine Flut aus trampelnden Füßen und schlagenden Körpern verwandelt. Wo sie vorbeikamen, explodierte Lirium. Ein Stand nach dem anderen flog in die Luft, funkelnde Wogen Magie wälzten sich auf die Menschen herab, schmetterten Körper gegeneinander, warfen, rissen und zerfetzten wie gigantische Fäuste. Ein brüllender Mann kam auf sie zugeschleudert – im letzten Augenblick zog der Junge Hel unter seinen Umhang. Der fliegende Mann wurde zur Seite gerissen und schlug in die Menge hinter ihnen ein.

Sie erreichten den Stall. Menschen retteten sich zwischen die wiehernden Pferde und suchten sogar Schutz im Heu. Hel und der Junge rannten vorüber. Endlich erschien das Stadttor vor ihnen. Die Wachen waren längst weggelaufen oder die Straße hinaufgerannt, um sich das Spektakel anzusehen. Niemand hielt sie auf, als Hel und der Junge in die Wüste flohen.

Nachdem der Lärm der einstürzenden Stadt verhallt war, hörten sie auf zu rennen und taumelten nach Atem ringend durch die Schluchten. Der Junge wurde immer langsamer. Schließlich drehte Hel sich nach ihm um – und erschrak. Die Kapuze war ihm vom Kopf gerutscht, er lehnte bleich und zitternd an der Felswand und japste nach Luft. Was Hel erstarren ließ, war jedoch sein Licht: Es war fast nicht mehr zu sehen! Die weiße Glut verhieß kaum noch Leben. Entsetzt stürzte sie neben ihn und sank mit ihm zu Boden. Haarsträhnen klebten auf seiner Stirn.

»Bist du verletzt? Wo bist du getroffen? Ich dachte, dein Umhang ...«

Er öffnete die Augen einen schmalen Spalt und Hel verstummte. Der Blick, der aus der Ferne zu ihr drang, schien sie nicht einmal zu erkennen. Etwas Fremdes traf sie in dem stählernen Blau, etwas, das bis jetzt hinter Spiegeln geschlafen hatte.

Mühsam richtete er sich auf, schloss die Augen und schluckte. »Ich ... werde nicht ... sterben. Ist gut.« Fahrig löste er den Lederschlauch. Hel half ihm zu trinken. Noch immer war sein Licht ein schwächliches Schimmern. Nur Menschen, die im Sterben lagen, hatten so ein Licht. Er musste schwer getroffen worden sein. Aber sie war doch die ganze Zeit neben ihm gewesen, sogar unter demselben Umhang!

Oder lag es gar nicht an dem Umhang und seinen geheimen Kräften, dass sie unverletzt geblieben war ... sondern an ihr? Was auch immer sie den Absturz der Schwalbe hatte überleben lassen, hatte sie vielleicht auch diesmal geschützt. Verzweifelt vor Ratlosigkeit ließ Hel den Kopf in die Hand sinken und wischte sich über die Stirn.

»Was ist überhaupt passiert?«, stammelte sie. Es war so schnell gegangen – sie fühlte sich, als wäre da eine Lücke in ihrem Gedächtnis, genau dort, wo der Zusammenhang lag und die Erklärung für alles.

Sie atmete tief durch und sah den Jungen an. »Jetzt musst du mir antworten! Hast du ... war das eben ... hast du irgendwas getan?« Sie ballte die Faust. »Hast du das bewirkt in der Windigen Stadt?«

Er zog gequält die Augenbrauen zusammen. Hels Verdacht fiel in sich zusammen, kaum dass sie die Worte ausgesprochen hatte. Er schwebte in Lebensgefahr. Wohl kaum würde er eine Stadt in die Luft sprengen, in deren Mitte er sich selbst befand. Und sie, Hel – die er schließlich schon einmal mühsam vor dem Tod bewahrt hatte.

Trotzdem ... es ließ sich nicht leugnen, dass er Zauberkräfte besaß und das, was eben passiert war, allemal als Zauberei gelten konnte. Auch wenn Hel sich dabei schlecht vorkam, ein Funken Argwohn blieb. Wie eine Kupfermünze auf dem Grund eines Brunnens.

Letzte Stunden

Diesmal war er es, der gerettet werden musste.

Hel stützte ihn beim Laufen, bis sie einen Hohlraum in den Felswänden fanden. Die Sonne wanderte durch die Höhen des Himmels und das Wasser lief ihm über Schläfen und Nacken. Hel breitete den Umhang auf dem Boden aus, damit er sich hinlegen konnte, so wie er es vor nicht langer Zeit für sie getan hatte. Dann nahm sie ihm die Weste und den Gürtel ab und öffnete die Schnüre seiner Ärmel. Als sie ihm aus dem Wams helfen wollte, hielt er sie wortlos zurück. Hel errötete, beließ es aber dabei, seine Ärmel hochzuschieben, um die Pulsadern mit einem Zipfel ihrer Jacke zu kühlen, den sie mit etwas Wasser befeuchtete. Mehr konnten sie leider nicht entbehren.

Als sie seine Arme umdrehte, entdeckte sie Zeichen.

Ein Strich, eine dunkelblaue Tätowierung, führte an der Innenfläche seiner Arme hinab bis zu den Händen. Wo mochten die Striche enden? Sie warf ihm einen Blick zu, doch er hatte die Augen geschlossen. Sein Schamgefühl war jedenfalls nicht der Grund, warum er sein Wams anbehalten wollte, da war Hel sicher.

Sie half ihm noch einmal beim Trinken, dann sank er in einen totengleichen Schlaf. Hel kroch zurück und beobachtete ihn mit umschlungenen Beinen, während draußen die Stunden fielen wie Körner in einer Sanduhr. Sein Licht ließ sie nie länger als ein paar Sekunden aus den Augen. Sonst hätte sie nicht sagen können, ob er noch am Leben war – im Schlaf blieb er reglos wie aus Stein gemeißelt, nicht einmal seinem Atem konnte sie lauschen, so flach ging er. Wenigstens schien er nicht verletzt zu sein. Hel hatte nirgendwo Blut entdecken können. Das Lirium musste ihn berührt und seine Energie fast völlig aufgesogen haben, anders konnte sie es sich nicht erklären. Allerdings hatte sie nie zuvor erlebt, dass das Licht eines Menschen geschwächt wurde ganz ohne körperliche Wunden. So etwas geschah höchstens im Alter. In den letzten Jahren war Gharras Licht immer blasser geworden ...

Hel lehnte sich an den Fels und ließ den Blick zwischen dem Jungen und dem kargen Land hin und her schweifen. Auch ihre Gedanken wanderten ruhelos zwischen den Ereignissen. Unmöglich, dass das hier dasselbe Land, dieselbe Welt war, die sie so oft durchflogen und zu kennen geglaubt hatte. Alles war fremd geworden ... der Anblick der Wüste war derselbe, doch es war ein verstummter Bekannter, der nicht mehr mit ihr sprach. Auch sie hatte ihre Stimme verloren. Denn obwohl da so viel war – fast eine Unendlichkeit zwischen den Horizonten -, war doch alles leer, verwirrend und ohne Erklärung. Nur Staub und Wind.