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Spät nachts kam er zu sich. Hel, die eingedöst war, richtete sich sofort auf. Er atmete flach aus und sie hörte ihn nicht mehr einatmen.

»Geht es dir gut?«, flüsterte sie. Dass er ihr diesmal keine Antwort gab, nahm sie ihm nicht übel. Sie betrachtete sein Licht und bildete sich ein, dass es schon wieder stärker leuchtete und auch nicht mehr so flackerte wie vorher.

»Trink etwas.« Sie half ihm, sich aufzurichten, und hielt den Wasserschlauch. Dann öffnete sie seine Tasche und holte die Fladen und Datteln heraus. »Iss, wenn du kannst. Dann kommst du zu Kräften. Hier, probier mal, ob dir das Brot schmeckt! Du hast es noch nie gekostet, oder?«

Er verneinte matt. Hel zerriss einen Fladen und gab ihm ein Stück. Er musste wirklich vom Ende der Welt kommen, wenn er das Brot nicht kannte. Oder von einem anderen Stern. Vielleicht von dem, nach dem er benannt war. Hel musste lächeln über diese Vorstellung.

»Schmeckt es dir?«

Ein schwaches Nicken. Er schluckte. »Ja. Es schmeckt.« Er klang fast bestürzt.

»Willst du die Datteln probieren? Ich kann nicht fassen, dass du nie welche gegessen hast! Weißt du, dass die bis zu den Küsten geliefert werden? Auf dem Landweg über die Adern oder manchmal per Schwebeschiff. Die Isen sind ganz verrückt nach Datteln, hab ich gehört. Sie tauschen Perlen und ihre kostbaren Araidann dagegen ein, stell dir vor.«

Er sah sie erschöpft an. »Wer sind Isen?«

»Das weißt du auch nicht? Dabei hast du heute einen gesehen, in der Arena. Sie haben ganz dunkle Haut und leben auf den Inseln. Sie wissen nichts von Magie, aber dafür haben sie ihre eigenen Wunder. Sie behaupten, dass sie aus dem Meer stammen oder aus irgendeinem versunkenen Land, jedenfalls nicht von dieser Welt.«

Er schien darüber nachzudenken. »Sind sie denn Menschen?«

»Nein. Obwohl – manche behaupten, sie sind doch welche. Man ist sich uneinig.« Hel packte vorsichtig die Datteln aus.

»Woher weißt du all das?«

Jureba, dachte sie. Gharra. Abende unter den Sternen, Abende im Schein der Leuchtkugel, bei Essen und Wein, Geschichten über Geschichten aus Zeiten und Ländern, die nach Ferne schmecken.

»Als Sturmjäger bekommt man viel mit. Eigentlich weiß jeder, wer Isen sind. Sie leben ja auch in Städten und nicht nur auf den Inseln.«

Er blickte hinaus. Im kühlen Mondlicht wirkte er seltsam verloren, beinahe verletzlich. Hel fragte sich, ob es jemanden gab, der an den Jungen dachte, sich um ihn sorgte und ihn liebte. Und ob er jemanden liebte. Ihre Wangen kribbelten. Irgendwie konnte sie sich nicht vorstellen, dass er Eltern hatte. Aber wenn es ein Mädchen gab, das in seiner Heimat auf ihn wartete, war es bestimmt sehr hübsch und genauso wortkarg und geheimnisvoll wie er.

»Die Inseln der Isen, gehören die zu Aradon?«

»Nein, die Isen haben nie die Dienste der Magierschaft in Anspruch genommen und haben deshalb auch kein Bündnis mit Aradon. Sie halten sich aus allem raus.«

Wieder schwieg er nachdenklich. Hel suchte ihm eine besonders große Dattel heraus. »Pass auf. Da ist ein Kern drin.«

»Warst du schon mal bei den Inseln?«

»Nein. Unser Jagdgebiet war immer die Wüste.«

»Dein ganzes Leben lang?«, fragte er leise.

Hel sah ihn an, nicht sicher, wie viel er wusste und ob er etwas andeuten wollte. Sie nickte knapp.

»Es muss schrecklich sein, diese Ödnis nie zu verlassen.«

Hel fühlte sich verletzt, dabei konnte sie ihm nur zustimmen. Das Land war trist. Aber das Leben auf der Schwalbe hatte ihr gefallen. Die Sturmjäger waren oft ruppig gewesen, aber im Großen und Ganzen hatte Gharra für ihr Wohl gesorgt; sie hatte einen Platz in der Welt gehabt, und das war alles, was zählte.

»Probier deine Dattel. Dann überleg noch mal, ob du die Wüste so schlimm findest.«

Er gehorchte. Hel merkte, dass er kurz im Kauen innehielt. »Das ... schmeckt. Wirklich gut.«

Sie kicherte. »Was dachtest du denn?« Sie nahm noch eine und nagte daran.

Er starrte seine angebissene Dattel an. Und es dauerte eine ganze Weile, ehe der Geschmack siegte und er sie aufaß.

Allmählich kam der Junge wieder zu Kräften. Sie schliefen beide ein, bevor es Tag wurde, und Hel erwachte erst am Mittag. Der Junge lag noch immer mit geschlossenen Augen da, allerdings nicht mehr zur Seite gedreht, sondern auf dem Rücken, die Hände zu Fäusten geballt. Ob er bei Sonnenaufgang wieder aufgestanden war, um sein Ritual abzuhalten? Hel vermutete es fast.

Sie zog einen Fladen aus der Tasche, brach die Hälfte ab und ging hinaus.

Die Luft flirrte vor Hitze. Hel verging fast der Hunger, als sie ins Sonnenlicht trat. Von Schatten zu Schatten springend, erkundete sie die nahe Umgebung und ließ sich schließlich zwischen trockenem Distelgestrüpp zu Boden sinken. Langsam kaute sie ihren Fladen. Nicht weit von ihren Füßen entfernt glitt eine kleine braune Schlange durch den Sand. Hel sah ihr nach, bis sie hinter den Felsen verschwunden war. Wie leicht man doch vergaß, dass man nicht alleine war.

Als sie fertig gegessen hatte, kletterte sie bis auf den höchsten Felsen und betrachtete das weite Land. Eine matte Brise umwehte sie. In alle Richtungen erstreckten sich Dünen, trockene Steppen, Distelfelder und Felsenlabyrinthe. Das Traurige war, dass nicht nur die normale Sicht ein kümmerliches Bild bot, sondern auch die zweite. Allein im Westen glomm noch ein wenig Leben im Boden, sonst war alles ausgestorben.

Und dennoch ... dennoch waren die Schwalbe und die Windige Stadt angegriffen worden. Irgendwas ging mit der Magie vor.

Hel drehte sich nach Osten. Dort würde Har’punaptra erscheinen. Sie stellte sich den flimmernden Umriss der Felswälle vor, dem sie schon so oft von der Schwalbe aus beim Wachsen oder Schrumpfen zugesehen hatte. Wie viele Tage sie wohl noch von der Zwergenstadt trennten?

Schließlich zwang die Sonne sie zum Abstieg. Hel kehrte zum Felsspalt zurück, trank einen Schluck und ruhte sich aus. Der Junge schlief noch immer, doch sein Licht wirkte bereits viel kräftiger. Ihre Gedanken glitten in ein nebelhaftes Kreiseln, sie döste ein ... und öffnete die Augen, als sie hörte, wie der Junge zu sich kam. Draußen ging gerade die Sonne unter.

»Du siehst schon viel besser aus«, bemerkte Hel.

»Verzeih, dass ich unsere Reise verzögert habe. Heute Nacht können wir weiter.«

»Du musst dich nicht entschuldigen. Tagsüber hätten wir sowieso nur hier geschlafen. Iss erst mal was, dann sehen wir, ob du wieder laufen kannst.«

Der Junge aß so bedächtig, als würde ihn zu schnelles Kauen erschöpfen. Doch als er geendet hatte, schnürte er seine Ärmel und zog sich den Umhang an. Hel konnte gerade noch verhindern, dass er den Wasserschlauch und die Tasche trug, und nahm ihm die Sachen ab.

Mit schleppenden Schritten machte er sich auf den Weg. Hel wurde erst jetzt bewusst, welch schwere Last er bist jetzt getragen hatte. Dabei hatte er nie mehr Erschöpfung gezeigt als sie.

Der Abend kam, doch es war Vollmond und hell genug, um die ganze Nacht durch zu gehen, wenn der Junge es schaffte. Angesichts seines noch immer blassen Lichts war es überhaupt verwunderlich, dass er einigermaßen vorankam.

Stunde um Stunde gingen sie. Der Junge stolperte oft, keine Spur mehr von der unheimlichen Lautlosigkeit, mit der er sich sonst bewegte. Hel vermutete, dass es nicht nur an seiner Schwäche lag. Immer wenn das Land lebendig gewesen war, hatte der Junge seine Fähigkeiten bewiesen. Er hatte Licht gemacht. Wasser fließen lassen. Sogar den Lymaerus gerufen. All das war vorbei, seit Lirium im Boden fehlte. War es tatsächlich möglich, dass er dem Boden Magie entzog? Wenn es stimmte, würde das weltverändernde Folgen haben. Dann brauchte man keine Sturmjäger mehr, keine Feenlichter, um Lirium einzufangen, und auch keine Magier, um die Feenlichter wieder zu entschlüsseln ... vorausgesetzt natürlich, seine Fähigkeiten waren für jeden erlernbar. Hel schauderte. Sie wusste nicht, welche Vorstellung ihr mehr Angst machte – dass es eine ganz neue Art der Zauberkunst gab oder dass der Junge über eine einzigartige Gabe verfügte.