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»Da, es kann Magie sehen. Sieht sie überall, meilenweit. Ideal für die Sturmjagd. Ihr müsst es nur in den Mastkorb stecken und warten, dass es Euch die Richtung zum nächsten Liriumsturm weist.« Der Zwerg zog die Hand des Kindes wie einen klebrigen Seestern von seinem Gesicht. Gharra hielt die Luft an. Zumindest wusste er über Kinder, dass sie für gewöhnlich zwei gleiche Augen hatten.

Dieses Kind nicht. Das eine war dunkel und tränenverquollen. Das andere, linke war milchig blau und von einer frisch verheilten Wunde in die Länge gezogen, die quer über die Schläfe führte. Das Kind – ein Mädchen, wie Gharra vermutete – war auf einem Auge blind.

»Soll das ein Scherz sein?«, fragte Gharra höflich. »Dein Kindchen ist blind wie der Mond persönlich.«

»Nur auf einem Auge. Mit dem anderen sieht sie alles. Alles.« Der Zwerg schüttelte das Kind ein wenig. Die angewinkelten Beine schlackerten unter dem Sackkleid.

Gharra beugte sich hinab. Wasser lief der Kleinen aus Nase und Augen. Gharra konnte sich nicht entscheiden, ob er sie niedlich oder abstoßend fand.

»Dann sag mir doch, mein hübsches Vögelchen, wo ich meinen Finger Lirium trage.« Gharra breitete die Arme aus.

»Mach«, befahl der Zwerg und streckte den Arm des Mädchens aus. Zögernd löste sie den Zeigefinger aus ihrer Faust. Zu Gharras Überraschung wies sie auf seine linke Schulter. Tatsächlich trug er einen vollen Liriumflakon im Schulterpolster. Dann schwankte der Finger des Mädchens abermals und richtete sich auf sein Schienbein. Kaum hörbar hauchte sie: »D-da ist eine Klinge mit Lirium.«

Gharra starrte an seinem Bein hinab. Unter dem dicken Stiefelleder war sein magischer Dolch nicht zu sehen. Jedenfalls nicht für ihn.

Der Zwerg setzte das Mädchen ab. Sofort senkte sie den Kopf und hielt sich wieder die Hände vor das entstellte Gesicht. Nur das heile Auge lugte zwischen den Fingern hervor.

»Seht Ihr«, brummte der Trollhändler. »Das Kind ist ein Segen für jeden Sturmjäger. In Har’punaptra würde sie uns reich machen.«

»Aber ihr wollt nicht mit ihr gesehen werden.«

Der Zwerg nickte. »Wir wissen nicht, woher sie kommt. Bis jetzt hatten wir keine Probleme und auf einem Schiff hoch oben im Himmel wird sie niemand suchen. Aber wer weiß, wer in Har’punaptra hinter einem verschollenen Kind her ist.«

Gharra kratzte sich wieder das Kinn. »Ein Segen ... vielleicht aber auch ein Fluch. Ich tue euch einen Gefallen, wenn ich sie euch abnehme.« Er schwieg einen Moment. »Also schön, fünf Schilling.«

»Sie ist mindestens einen Dukaten wert! Allein wenn wir ihre Haare und Zähne verkauften, haben wir schon so viel!«

»Ja, und eine Leiche.«

»Nicht unbedingt«, grollte der Zwerg.

Gharra seufzte. »Also schön. Einen Dukaten.«

Und so tauschten einundsechzig Dukaten, sechs Trolle und ein Mädchen ihre Besitzer. Als man die Trolle auf das Schiff gebracht hatte, legte Gharra beide Hände auf die schmalen Schultern des Kindes. Er spürte die Knochen durch den Stoff, was gewiss nicht nur an der Verpflegung der Zwerge lag. Einer der vielen Gründe, weshalb die Menschen aus dem Alten Reich zu fliehen versuchten, war der Hunger, hieß es.

»Mein Name ist Kapitän Redwin Gharra. Aber es reicht, wenn du mich Kapitän nennst. Das bedeutet, dass ich das Kommando habe und alle machen, was ich sage. Und bevor du einen Befehl ausführst, sagst du ›Aye, Aye, Kapitän‹. Kannst du dir das merken?«

Das Mädchen nickte. Als Gharra sie mit einem erwartungsvollen Blick bedachte, erklang ein leises »Aye, Aye, Kapitän.«

»Sehr schön! Aber ein bisschen lauter nächstes Mal, der Wind weht stark dort oben. Und nun verrate mir deinen Namen.«

Das Kind sah ihn schweigend an.

»Fragt sie was anderes«, mischte sich der Trollhändler hinter Gharra ein, der inzwischen die Käfigwagen für die Weiterreise verschloss. »Sie will ihren Namen nicht rausrücken, falls sie einen hat. Wir haben sie Hel genannt, Licht, wegen dem ...« Er deutete auf sein Auge.

Gharra runzelte die Stirn. »Wie lange war sie denn bei euch?«

»Fünf, sechs Monde.«

Gharra fragte sich, wie viel von der Zeit sie in der zauberfesten Kiste verbracht hatte. »Ein zwergischer Name für ein Menschenkind. Licht für eine Halbblinde! Na, wenigstens gibt er deiner traurigen Erscheinung ein bisschen Humor mit. Er wird genügen, bis dir dein echter Name wieder einfällt.« Er stand auf und hielt ihr die Hand hin, um sie auf das Schiff zu führen. Als sie ihre hineinlegte, war er sich nicht sicher, ob sie »Aye, Aye« murmelte. Für einen Augenblick durchfuhr den Kapitän ein Gefühl zärtlichster Zuneigung, schwer und süß wie der Wind jener Sommerabende, die er im Tiefflug über den Steppen verbracht hatte, damals, vor fast einem halben Jahrhundert, als er selbst ein Kind gewesen war.

Ebenso rasch, wie das Gefühl aufgekommen war, flaute es wieder ab.

Gharra seufzte. Wenn das Kind Ärger bereitete, würde er es in der nördlichen Wüste über Bord werfen, wo der Sand noch gefräßig war. Dabei fiel ihm wieder etwas ein. Mit einem gutmütigen Lächeln blickte er auf das Mädchen hinab.

»Sag mal, mein hübsches Monster, kannst du auch kochen?«

Doch diesmal wartete Kapitän Gharra vergebens auf das »Aye, Aye«.

Und er zog durch Nacht und Wüste

Überzog die Wüste mit Nacht

Und suchte den Tod und Rache

Strahlender Tod erwacht!

Und fand das Licht und ein Mädchen

Ein Mädchen, von Licht bewacht.

Gesprochen in den Hallen von Hellesdîm.

Lichter

Der Wüstenwind war kühl bei Einbruch der Dämmerung und schwemmte die schwere, stehende Hitze des Tages fort wie ein Schwall Wasser. Es war Hels Lieblingszeit.

Sie stand im Mastkorb, zwanzig Fuß über dem Vorderdeck und gut eine Viertelmeile über dem Erdboden. Ihre Hände ruhten auf dem Korbrand, ohne sich festzuhalten; das musste sie nicht. Nach neun Jahren hier oben hatten stürmische Winde die Angst längst davongeweht. Sie fühlte sich frei und sicher. Das lag auch an der hereinbrechenden Dunkelheit und der Tatsache, dass sie unbeobachtet war. In Momenten wie diesen wagte sie, die Augenklappe abzunehmen. Die Luft war eine weiche Berührung auf dem linken Augenlid, das sonst nie jemand anfasste und auch nie anfassen würde. Sogar sie selbst scheute davor zurück. Die Narbe an ihrer Schläfe, die unter den Haaren bis zum Hinterkopf reichte, war bleich und buckelig, aber nicht annähernd so abstoßend wie das Auge. Es war leicht in die Länge gezogen, und manchmal, wenn Hel doch versehentlich darüberstrich oder in einen Spiegel blickte, ohne die Binde zu tragen – was äußerst selten passierte -, kam es ihr vor, als sei das linke Auge größer als das gesunde. Als sei der milchweiße Ball in ihrem Kopf gewachsen und drücke gegen den Stoff, um ihre Aufmerksamkeit zu erzwingen. Sie blinzelte. Ihre Hände schlossen sich um den Korbrand, als die doppelte Sicht kam.

Früher hatte sie die merkwürdige Überlagerung der zwei Welten kaum ausgehalten, war gelegentlich umgekippt und hatte sich sogar übergeben müssen, vor allem am Anfang, als sie das Leben in der Höhe noch nicht gewohnt gewesen war. Selbst heute brachte sie die doppelte Sicht ein wenig aus dem Gleichgewicht. Deshalb machte sie die Augen meistens zu, wenn sie die Klappe mit der eingearbeiteten Silbermünze nicht trug, die die unheimliche zweite Sicht abschirmte.

Denn sie war keineswegs blind auf dem Ding in ihrer linken Gesichtshälfte. Selbst mit geschlossenen Augen nicht.

Sie konnte Leben sehen. Bei Nacht und Tag, Nebel und Sturm, durch Holz und Wände. Bis zum Horizont bot sich ihr die Welt in Lichtern dar und weihte sie in ihr pulsierendes Geheimnis ein. Sie sah, welche Berge tot waren und in welchem Gestein Lirium, die Essenz der Magie, glühend schwelte und auf einen Ausbruch wartete. Sie sah schwarz funkelnde Adern, die sich im Erdinneren durch Lehm und Granit schlängelten, und brodelnde Seen, die unter ausgedorrtem Flachland schäumten. Sie sah, wie Lirium perlmuttweißen Spinnweben gleich in Sträucher kroch und sie mit Magie nährte. Lange bevor eine Klippenwand sich auftat und Gräser, Steine, Tiere verschluckte, konnte Hel die Bewegung voraussagen.