Выбрать главу

Sie legten nur zwei kurze Pausen ein, um zu trinken, und durchwanderten die ganze Nacht. Erst als die Sonne aufging, willigte der Junge ein, noch einmal zu rasten. Während Hel sich einfach zu Boden sinken ließ, stellte er sich jedoch nach Osten und vollzog sein tägliches Gebet. Hel beschloss, die Zeit ebenfalls sinnvoll zu nutzen, und schlief sofort ein.

Sie war kaum durch die ersten Traumbilder gefallen, da weckte der Junge sie wieder. »Lass uns weitergehen, bis es Mittag wird. Wir haben schon zu viel Zeit verloren.«

Hel hätte im Augenblick gerne ein, zwei oder drei Reisetage mehr in Kauf genommen, um nicht aufstehen zu müssen. Aber der Junge hatte es wohl eilig. Vielleicht verdarb ja seine heiß begehrte Ware in Har’punaptra, dachte Hel und musste fast schmunzeln. Dass er hinter einem Handel her war, glaubte sie ihm längst nicht mehr.

Als die Hitze ihn endlich zur Pause zwang, legten sie sich in den Schatten einer Klippe. Fiebrige Wüstenträume suchten Hel heim.

Die Tage und Nächte verstrichen und das Licht des Jungen hellte auf. Obwohl Hel sehen konnte, wie die Lebenskraft in ihn zurückkehrte, blieben die magischen Schauspiele aus. Auch das Land zeigte sich arm, und Hel war nun sicher, dass seine Fähigkeiten unmittelbar damit zusammenhingen. Ab und zu murmelte er Dinge wie »Es ist hier so tot« und »Nichts ... wirklich nichts ...«, bis Hel sich schon fragte, ob er Lirium sehen konnte wie sie. Wenn sie ihn darauf ansprach, stellte er sich natürlich taub oder gab Antworten, die auf alles passten, nur nicht auf ihre Frage. Es war geradezu bewundernswert, wie er seine Geheimnisse wahrte oder vielleicht auch Geheimnisse schuf, wo keine waren. Was den Zwischenfall in der Windigen Stadt betraf, blieb er ebenfalls wortkarg.

»Hast du denn nicht einmal eine Vermutung, was passiert sein könnte?«, fragte Hel eines späten Nachmittags, als sie aufwachten und etwas aßen, bevor sie die Nacht durch laufen wollten. Inzwischen waren nur noch vier Fladen übrig und gerade einmal zwei Handvoll Datteln, obwohl sie so sparsam wie möglich gewesen waren. Hel wollte gar nicht daran denken, was passierte, wenn Har’punaptra doch noch weiter entfernt war, als sie geschätzt hatten. Sie mussten einfach schneller gehen.

»Du bist doch selbst so etwas wie ein Magier«, hakte sie nach. »Wie konnte das Lirium sich einfach verselbstständigen?«

»Warum beschäftigt dich das so?«

Sie sah ihm in die Augen. »Menschen sind gestorben. Du wärst fast gestorben.«

Er erwiderte ihren Blick ungerührt.

»Außerdem«, fuhr sie leise fort, »glaube ich, dass dahinter dieselbe Macht steckt, die auch die Schwalbe angegriffen hat. Das Land.« Sie nickte sich selbst zu, weil der Junge keine Reaktion zeigte. »Das Land spielt verrückt. Ich weiß nicht wie, aber in der Windigen Stadt hat es sich das Lirium von den Leuten zurückgeholt. Und gegen sie verwendet.« Sie fühlte sich plötzlich unwohl und schlang die Arme um sich selbst.

Der Junge aß ruhig weiter, schluckte und packte ihre Sachen. »Auf den Menschen lag ein Fluch. Das ist, was ich glaube.«

»Ein Fluch? Was denn für ein Fluch?«

»Es gibt viele Flüche.«

»Und an welchen denkst du?«

Er lächelte, doch seine Augen blieben ernst. »Ich kenne keine Flüche.«

Die Stunden blieben zurück wie ungezählte Schritte im Sand. Kälte, Hitze, Licht und Dunkel wechselten sich ab im Takt von Durst und Hunger. Manchmal vergaß Hel, wie lange sie schon liefen, wie lange die Nacht andauerte und ob sie die Nächte davor nur erträumt hatte. Sie wusste auch längst nicht immer, wieso sie überhaupt ging und was in Har’punaptra so wichtig war, dass sie dorthin musste. Aber vielleicht setzte sie nur einen Fuß vor den anderen, weil es keine andere Möglichkeit gab ... und weil alles Lebendige, auch Hel, bis zum Ende auf der Flucht vor dem Nichts war.

Dann, eines späten Nachmittags, entdeckte Hel Lichter. Es waren viele. Sie funkelten fiebrig hinter den Felswällen von Har’punaptra.

Har’punaptra

Sind das alles Sturmjäger?«, fragte der Junge, als er die Schiffe über den Felsen entdeckte.

»Aber nein, das sind auch Frachter und Passagierschiffe und Handelsflotten – das ist Har’punaptra, wir sind da!« Hel rannte mehrere Schritte vor, plötzlich von neuer Energie erfüllt. »Siehst du? Dort oben landen die Schiffe. Es gibt zwei Anlegestellen, einmal im Osten und einmal im Norden. Der Nordhafen ist der größere, dort landen auch die Sturmjäger. Los, komm!«

Sie drehte sich um und merkte, dass sie einen großen Vorsprung zwischen sich und den Jungen gebracht hatte. Eilig lief sie zurück, fasste ihn an der Hand und zog ihn vorwärts.

»Was ist, freust du dich denn nicht? Wir sind da!«

»Doch«, murmelte er.

»Du hast es dir größer vorgestellt, was? Dann lass dich überraschen. Har’punaptra sieht von außen nicht so aus wie von innen. Komm!«

Er zog sich die Kapuze übers Gesicht und setzte sich endlich in Bewegung.

Bald erschien eine breite Straße unter ihnen. Sie kletterten am Geröll hinab und folgten den zerwühlten Spuren von Füßen und Wagen, die Har’punaptra vor ihnen erreicht hatten.

Hundert Schritte vor dem Stadttor stand ein kleiner Zollturm, auf dessen Dach ein Zwerg saß.

Trotz der Hitze trug er einen gusseisernen Helm und das lange grüne Wams der Stadtwache, auf der in Gelb und Rot eine aufgehende Sonne abgebildet war. Als Hel und der Junge näher kamen, streifte er sie mit leeren Augen, die Hunderte von Leuten am Tag vorbeikommen sahen.

»Willkommen in der Hauptstadt der Zwerge und des Handels, ihr seid in Har’punaptra!«, rief er und hob die Hand, die im Vergleich zu seinem gedrungenen Körper riesig schien.

Hel erwiderte den Gruß. »Seid gegrüßt! Wir kommen aus der Wüste, ich bin Sturmjägerin bei Kapitän Redwin Gharra auf der Schwalbe, unser Schiff ist abgestürzt!«

Der Zwerg blinzelte sie irritiert an. Die Worte waren so aus ihr herausgesprudelt – sie spürte jetzt, wie dringend sie der ganzen Welt mitteilen wollte, was vorgefallen war.

»Dann wisst ihr sicher, wie ihr euch an die Magierschaft wenden könnt. Ihr müsst trotzdem Wegzoll zahlen. Ein Schilling pro Kopf.«

Hel drehte sich zu dem Jungen um. »Hast du noch Geld?« Er räusperte sich und griff in die Tasche. Hel sah, wie er zwei Datteln nahm. Doch als er seine Handfläche ins Sonnenlicht hielt, lagen nicht Datteln, sondern Kupferstücke darin.

»Hier, zwei Schilling«, sagte er mühsam.

Der Zwerg ließ eine Art verlängerte Schaufel herab, sodass er die Münzen darauflegen konnte. Sie gaben ein glockenhelles Klirren von sich. Ungläubig sah Hel zu, wie der Zwerg die Schaufel hochzog und das Geld nahm. Er nickte ihnen zu. »Viel Glück und Freude in Har’punaptra!«

»Ja, danke«, stammelte Hel und ging weiter. Ab hier war die Straße gepflastert, zwei tiefe Gräben säumten sie zu beiden Seiten. Gut eine halbe Meile voraus klaffte ein riesiges Tor in der Felswand.

»Du hast mit Datteln bezahlt«, keuchte Hel.