»Hallo, mein Hübscher, möchtest du mal ziehen? Das macht aber einen Kuss, und den nächsten Kuss musst du mit was anderem bezahlen, ja?«
Hel zog den Jungen weg. Auf ihren hohen Schuhen war die Zwergin so groß wie Hel und warf ihr einen garstigen Blick zu – als sie ihr Auge sah, rief sie »Iiiihh!« und trippelte kieksend davon.
Mit Wut im Bauch und gesenktem Gesicht schob Hel sich weiter durch das Gedränge. Auf einem breiten Felsvorsprung standen Trolle in Ketten zur Schau. Der feuchte, lehmige Gestank raubte einem fast den Atem. Dennoch tummelten sich einige interessierte Käufer um den Vorsprung und feilschten um die besten Trolle. Rasch liefen sie weiter und kamen in einen Tunnel, dessen Bogenfenster die Sicht auf tiefe Häuserschluchten freigaben. Durch die Holzbretter im Dach ließen sich Füße erahnen, es war ein mehrstöckiger Weg.
Eine altes Runzelweib aus dem Isenvolk trug einen Käfig voller Vögel vor dem Bauch. Die feuerroten und goldenen Tiere zwitscherten panisch durcheinander, als ein Zwergenkind auf sie zurannte und gegen die Gitter patschte. »Ich will eins! Will eins haben! Sind das Gnome? Warum leuchten die nicht?«
Hel und der Junge verließen den Tunnel und stiegen weitere Treppen empor, die durch Hallen und Gebäude führten, dann an Klippen entlang, bis sich kaum mehr sagen ließ, ob sie zu den Straßen gehörten oder zu Häusern. Ein Markt erschien, auf dem Hühner, Schildkröten, Schlangen und Skorpione verkauft wurden; dahinter boten Metzger ihre Waren feil, und es dauerte nicht lange, bis Hel und der Junge ein Viertel voller Garküchen und Gasthöfe erreichten. Hier oben waren deutlich mehr Menschen auf den Straßen als weiter unten in der Stadt. Die Türen waren höher, die Wege breiter und die Speisen weniger auf zwergische Gaumen abgestimmt. Als sie an Buden vorbeikamen, in denen warme Suppen köchelten und Apfelküchlein mit Karamell beträufelt wurden, begann Hels Magen zu knurren. Sie konnte erst wieder auf eine Mahlzeit hoffen, wenn sie ihre Audienz bei dem Magier von Har’punaptra bekam ... aber ehe sie dort um Verpflegung bitten konnte, würde sie erzählen müssen, was passiert war. Und es war verdammt viel zu erzählen ...
»Ist es noch weit bis zum Fürsten?«, fragte der Junge.
Hel riss ihren Blick von einem großen, brutzelnden Fleischspieß los und suchte zwischen den Gipfeln der Stadt nach dem Palast des Fürsten. Er war in die höchsten Felsen Har’punaptras gehauen und streckte seine Türme über den Rand der Klippen hinaus – dennoch versteckten die näheren Gebäude ihn jetzt.
»Wir sind schon in der Hochstadt«, antwortete Hel. »Jetzt ist es nicht mehr weit.« Sie blieb stehen und wandte sich ihm zu. »Ich kann von hier aus auch alleine weiter. Danke ... dass du mich so weit begleitet hast.«
Er sah sie an. Hel fiel auf, wie dunkel die Ringe unter seinen Augen waren.
»Möchtest du noch etwas mit mir essen?«
»Mit ... aber wir haben kein Geld.«
Er lächelte. Ehe sie sichs versah, hatte er sie durch einen Steinbogen in ein Gasthaus gezogen.
An jedem Tisch schwebte eine matt schimmernde Leuchtkugel. Es musste eine feine Herberge sein. Auf einer Holzbühne tanzten schmalgliedrige Zwerginnen mit Seidentüchern, Flöten und Glocken. Durch die Fenster konnte man auf die Stadt hinabblicken, ein Gewirr aus wuselndem, funkelndem Leben.
Ein Zwerg mit kurz geschorenem Haar und schlichter, aber guter Kleidung geleitete Hel und den Jungen zu einem der runden Erker, wo die Tische standen. Dann zählte er die Speisen auf, die die Küche bot. Hel spürte, wie ihre Zunge immer fester am Gaumen klebte. Ziegenbraten mit frischen Fladen, Apfelbutter mit Biskuit und Preiselbeeren, gebrannte Wüstennüsse, Sesamklöße, gefüllt mit süßen Pflaumen und salziger Kichererbsenpaste, überbackene Honigküchlein in Zuckerlikör, gebratene Ringelnudeln mit Eiern und Speck. Als der Zwerg schließlich endete, sah der Junge Hel fragend an.
»Was willst du?«
Hel konnte sich nicht entscheiden. Der Junge schien ihre Gedanken zu lesen und richtete sich an den Zwerg: »Könnten wir vielleicht eine ... Auswahl von den Empfehlungen der Küche haben?«
Der Zwerg verneigte sich mehrmals. »Gewiss, gewiss, sehr gerne. Davor müsste ich mich allerdings davon überzeugen, dass die Herrschaften zahlungskräftig sind ...« Mit Falkenblick beobachtete der Zwerg, wie der Junge unter seinen verstaubten Umhang griff und eine Handvoll Silbermünzen zum Vorschein brachte.
»Hier. Das sind Silbermünzen.«
»Das – das sehe ich!«, ereiferte sich der Zwerg und begann wieder mit seinen Verbeugungen. »Verzeihung vielmals, die Herrschaften, das Mahl wird bald angerichtet sein. Wollen die Herrschaften dazu eine Auswahl unserer besten Weine? Unser Met ist herrlich, süß oder würzig ...« Der Junge unterbrach seinen Redeschwall mit einem Nicken. »Gut, auch Wein.«
Endlich zog der Zwerg sich zurück. Er musste sie für Diebe halten, so abgemagert und schmutzig wie sie waren und wie sie mit Silber um sich warfen. Als er hinter einer Treppe verschwunden war, beugte Hel sich über den Tisch.
»Du hast nicht zufällig echtes Silber dabei?«
Der Junge sah sie wieder nur an. Hel wusste die Pausen nicht zu deuten, die er neuerdings vor dem Sprechen machte. Dachte er an ihren Abschied? An ihr Auge? War ihr eine Warze auf der Stirn gewachsen?
»Nein«, sagte er leise. »Das weißt du doch.«
Sie musste kichern. »Lass uns das Geld nachher auf den Tisch legen und ganz schnell abhauen. Weißt du, was das Schlimmste daran ist? Dass ich nicht einmal ein schlechtes Gewissen habe. Ich denke bloß an die vielen Vorräte, die hier in den Kellern lagern, und dass ich von allem einmal abbeißen will!«
Er stützte die Arme auf den Tisch, kam etwas näher und grinste ebenfalls. Hel war sicher, dass er etwas sagen wollte, doch in dem Moment kamen zwei kräftige Zwerginnen und stellten so viele Weinkrüge auf den Tisch, dass es für eine ganze Sturmjägermannschaft gereicht hätte. Reichlich überfordert ließ man Hel und den Jungen wieder allein. Schließlich probierten sie von jedem Krug einen Schluck, entschieden, dass ein Honigbranntwein der beste sei, und tranken danach doch nicht mehr. Dann wurden die Speisen gebracht.
Zuerst gab es Fleischbrühe mit saftigen Brocken, Rüben und Zwiebeln, die Hel nach den ersten köstlichen Löffeln am liebsten in einem Zug ausgetrunken hätte. Bevor es dazu kam, wurden warme Fladen gebracht, beim Aufreißen noch dampfend, mit dicken Soßen zum Tunken, Pasten aus Oliven und Paprika und eingelegtem Gemüse. Wieder kamen die Zwerginnen mit Tabletts: heiß gebratene Sesamklöße, aus denen rote Pflaumensoße tropfte. Hel wusste gar nicht, was sie zuerst essen sollte. Viel zu schnell fühlte sie sich satt, dabei waren die Becher, Schüsseln und Teller noch nicht einmal zur Hälfte leer. Ob sie etwas mitnehmen konnten? Andererseits würde sie kaum mit einem Sack lauwarmer Essensreste in den Palast des Fürsten marschieren können. Und der Junge würde dank seiner Zauberei überall neues Essen bekommen.
Als sie sich Soßenreste von den Fingern leckte, bemerkte sie, dass der Junge hinter den Speisebergen gar nicht wie sie mit Hinunterschlingen beschäftigt war. Still saß er da, einen angebissenen Teigkloß in der Hand, und beobachtete sie.
Hel wischte sich unauffällig über den Mund. »Schmeckt es dir nicht?«
Er zog die Mundwinkel zu einem kleinen Lächeln hoch, doch sein Blick blieb seltsam fern. »Doch. Ich wusste nicht, dass ihr so gutes Essen habt.«
Sie schob die Schüsseln zusammen und legte die Arme auf den Tisch. »Wo kommst du wirklich her?«
Die Musik, das nahe und ferne Summen von Stimmen und das gedämpfte Tosen der Stadt schlossen sich um sie wie Nebel und Samt. Lichter tanzten träge auf der zweiten Sicht; vage Spiegelungen schwebten durch seine Augen. Er senkte den Blick und legte den Teigkloß weg.
»Ich bin satt, du auch? Ich bring dich noch zum Palast des Fürsten.«
»Wo musst du hin?«
Er blickte aus den Fenstern, wie um die Antwort zu finden. »In die Nähe.«