»Vielleicht sollte lieber ich dich begleiten. Har’punaptra hat ein paar gefährliche Viertel, weißt du.«
Er grinste sie an. »Und dann wärst du meine Leibwache?«
»Unterschätz mich bloß nicht. Ich bin unverwüstlich und außerdem eine gute Abschreckung.« Sie wies auf ihr Auge. Das Lächeln des Jungen erlosch. Hel schluckte – verdammt, wieso musste sie immer so dämliche Sachen sagen.
»Komm, gehen wir.« Er riss vier Stücke aus einem Fladenbrot. Als er sie auf den Tisch legte, waren es Silbermünzen. Hel, die eben noch einen Weinbecher leerte, lehnte sich staunend darüber, doch als sie eine Münze anfassen wollte, hielt er ihre Hand fest. »Tu das lieber nicht.«
»Äh, ist gut. Warum?«
»Jede Illusion kostet mich Kraft. Entschuldige.«
»Macht nichts«, murmelte sie und folgte ihm nach draußen. Der Zwerg verabschiedete sie katzbuckelnd, sobald er das Silber auf dem Tisch erspähte. Draußen tauchten sie rasch in der Menge unter.
Inzwischen war es Nacht geworden, doch die Lichter der Stadt blendeten alle Sterne aus. Hel sah in den Himmel, der auf der zweiten Sicht angenehm leer war. So folgten sie den gewundenen Gassen, bis sich die höchsten Zwiebeltürme des Palasts in ihr Blickfeld schoben. Prächtige Steinbögen führten auf einen Felsvorsprung, der das Dach von Har’punaptra bildete: Hier lag das Hafenviertel.
Lampions säumten die Dächer der Häuser, als gelte es, jeden Schatten auszumerzen. Aus Schenken schwappten hundert verschiedene Melodien. Hel hatte sich immer gefreut, wenn die Schwalbe in Har’punaptra landete und sie ein paar Nächte in diesem Viertel verbringen konnte – es gab Theater und Tänze an jeder Ecke, ganz zu schweigen von den anderen Sturmjägern, die Tratsch und Gerüchte aus allen Winkeln der Welt mitbrachten. Aber Hel war dem bunten Dach der Stadt nie mit der zweiten Sicht ausgesetzt gewesen. Es war fast unerträglich.
»Ist das der Palast des Fürsten?«, fragte der Junge und wies auf die Türme, die den sandigen Felsen entwuchsen. Hel nickte. Inzwischen waren sie näher herangekommen; sie standen am Rand eines Balkons, der sich wie ein Vogelnest über die Unterstadt beugte. Ein Weinfest war im Gange. Inmitten dicht umdrängter Buden und Sitzbänke tanzte man zu zwergischen Flöten. Hel entdeckte mehrere Sturmjäger im Strudel der Tanzenden. Was für ein Zufall! Andererseits ankerte doch fast immer irgendein Schiff der Liga in Har’punaptra. Das erste Mal seit Langem hatte Hel wieder so etwas wie ein Heimatgefühl, wärmend, aber auch traurig.
»Hier wären wir also«, murmelte sie. »Dort hinten ist das Palasttor. Danke, dass du bis hierher mitgekommen bist.« Sie wollte ihm auch für alles andere danken, aber sie brachte kein Wort hervor. Er war ihr in den letzten Tagen so vertraut geworden, und jetzt war der Augenblick gekommen, wo sie wieder Fremde werden würden. Sie konnte nicht Lebewohl sagen. Noch nicht. Noch einen Moment. Vielleicht schwieg er ja aus demselben Grund ...
Ein zwergischer Flötenspieler kam und blieb vor ihnen stehen, ein langsames Tanzlied anstimmend. Hel warf ihm einen nervösen Seitenblick zu.
»Möchtest du ... noch etwas trinken?« Der Junge deutete auf eine der Weinschenken.
Hel lächelte. »Haben wir heute nicht schon genug Leute betrogen? Danke«, fügte sie rasch hinzu, »lieber nicht, mir ist schon ein bisschen schwindelig.«
Der Zwerg spielte noch immer neben ihnen. Paare sammelten sich rings um sie. »Verdammt, will der ein Trinkgeld von uns oder was?«, murmelte Hel. Der Zwerg hörte sie nicht, entdeckte aber nun ihr Auge und drehte sich weg.
»Dann wünsche ich dir viel Glück. Auf deinem weiteren Weg.« Er sah sie eindringlich an.
»Ja. Dir auch. Viel Glück bei deinem Handel.« Hel spürte, wie sie ihm die Hand hinhielt.
Nach kurzem Zögern ergriff er sie. Seine Finger umschlossen ihre fest, aber es war ihr nicht unangenehm. »Hel. Hör zu. Ich -«
»HE, HEEEL!«
Sie fuhr herum. Aus der Menge tauchten ein winkender Arm und ein Gesicht auf. Ihr Magen verkrampfte sich. Obwohl die braunen Locken länger waren als früher und der Junge darunter jetzt fast ein Mann war, erkannte sie Nova sofort wieder – Nova, Sturmjäger auf der Taube, Sohn von Kapitän Neremias Nord, dem berüchtigtsten Jäger der Liga – Nova, der fast schon selbst berüchtigt war. Aber für ganz andere Dinge.
»Nova«, stammelte Hel. Er zeigte ihr aus der Ferne eine rote Mohnblume, legte theatralisch die Hand aufs Herz und kam näher, umringt von einer Gruppe zwergischer und menschlicher Mädchen. Hel wollte sich die Hand vor das linke Auge halten, als ein Ruck an ihrem Arm sie taumeln ließ. Novas überraschtes Gesicht verwischte im Gedränge. Der Junge zerrte sie vom Fest weg.
»Au – he! Was -« Der Junge rannte fast und zwang sie, mitzustolpern. Entsetzt stürzte sie eine Treppe hinter ihm her. Er fing sie auf und zog sie wie einen Mehlsack weiter, durch tropfende, enge Gassen, bis der Lichterschein verrauchte. Unter einer Steinbrücke, die über die niedrigen Häuschen griff, blieb er endlich stehen und schob sie in die Schatten.
»Was zum Henker ist -« Er presste ihr eine zitternde Hand auf den Mund, ließ sie aber gleich wieder los. Sein Blick irrte über das Gewirr aus Brücken und Dächern – und blieb an etwas hängen. Hel spürte, wie er erstarrte. Ängstlich drehte sie sich um.
Eine Gestalt sprang am fernen Ende des Gässchens vom Dach. Es waren immerhin zwei Meter Tiefe, doch die Gestalt richtete sich sofort wieder auf und kam mit ruhigen Schritten auf sie zu.
»Ergreifst du jetzt schon die Flucht vor mir, ohne nachzusehen, ob ich eins habe?«, sagte eine glatte weibliche Stimme. Licht fiel durch eine Lücke zwischen den Häusern und die Unbekannte blieb stehen. Ein langer Umhang ließ sich erahnen, so wie der, den der Junge trug. Sie legte den Kopf schief. »Bist du denn gar nicht ... neugierig?«
Der Junge drückte Hels Arm und ließ sie dann los, um aus dem Schatten zu treten. »Wenn du eins hättest, würdest du nicht versuchen, mich hinterrücks aus der Menge anzugreifen. Noch dazu mit einem so armseligen Schlag.« Er nickte ihr zu. »Sár Myrdem Hel alil. Was für eine Überraschung, dich hier zu treffen.«
Lachen perlte von den Hauswänden. »Du glaubst doch nicht, dass du der Einzige wärst, der auf die Zwergenstadt gekommen ist? Ich bitte dich ... ein Schlangennest mitten in der Wüste, sagenhaft versorgt von drei mächtigen unterirdischen Flüssen, die sich nie von der Stelle bewegen. Man müsste ein Narr sein, nicht nachzuforschen.«
»Wie gesagt«, erwiderte er. »Dich hier zu treffen, überrascht mich, Saraide.«
Einen Augenblick herrschte atemlose Stille. Dann warf die Fremde eine zierliche weiße Hand in die Luft und etwas Helles schoss durch die Gasse. Der Junge riss die Arme hoch. Ein Lichtkreis zerplatzte über ihnen und für ein paar Sekunden war alles erleuchtet. Hel sah die Fremde. Dickes rotblondes Haar fiel bis zu den Hüften. Die Augenbrauen waren ungewöhnlich dicht, darunter glommen Augen wie Öltropfen. Ein Lächeln spielte um den Mund, der blass und voll war und dem hageren Gesicht trotz seiner Länge etwas Reizvolles verlieh.
»Wer ist diese armselige Kreatur, die du mit dir herumführst?« Die Worte fielen silbrigen Glöckchen gleich in die Dunkelheit. »Gehört das Krüppelauge zu deiner Maskerade oder sollte sie mich interessieren?«
»Ardym mahil lilh alid, sar’en helir. Genauso wenig wie mich.«
»Hast du ihr das da angetan? Soll ich sie aus ihrem Elend befreien? So etwas kann man doch nicht herumlaufen lassen.«
»Nur zu, Saraide. Verschwende deine Kräfte.«
Die Frau schmunzelte. »Anetán ist übrigens ebenfalls hier. Ich frage mich, wer von uns weiterziehen wird. Derjenige muss es dann mit Totumé aufnehmen. Ja, sie ist uns tatsächlich allen voraus, ausgerechnet sie! Unsere Kleine macht auch keinen Hehl daraus ... die Verdammten reden im ganzen Land von ihr.«