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»Was, Totumé?«, murmelte er.

Die Frau trat ins Licht der Hauslücke. Rasierklingen schienen das Grinsen ins Gesicht geschnitten zu haben. »Es geht los. Mercurin, mein Bruder ... heute Nacht wirst du ins Reich der schweigenden Könige einkehren.« Sie neigte den Kopf und war zwischen den Häusern verschwunden. Der Junge blickte ihrem Schatten nach, der über den Boden davonglitt.

Nova

Endlich konnte Hel sich von der Mauer lösen. Panik trommelte in ihren Gliedern. Sie verstand nicht, was die Begegnung bedeutete, doch sie spürte die Gefahr – spürte seine Angst wie Treibsand um sie ansteigen.

»Wer war das? ... Mercurin?«

Er zuckte kaum merklich zusammen, als sie seinen Namen sagte, und tief in ihrem Inneren flatterte ein Lächeln – Mercurin, so hieß er also, ein Stern im Norden der Nacht. Er drehte sich zu ihr um, hob den Blick und kam damit doch nur bis zu ihrem Mund.

»Ich verstehe nicht, wer du bist«, sagte er mit wackeliger Stimme, »und was du zu bedeuten hast, aber ich glaube, dass du gesegnet bist und das Tiefe Licht mir durch dich ein Zeichen gibt, dass Es mir wohlgesinnt ist.«

»Was?«

Er zog etwas aus seiner Tasche und legte es ihr in die Hand. »Versprich mir etwas. Du sollst es wissen. Geh zu den Inseln der Isen, von denen du mir erzählt hast. Geh fort aus Aradon, der Boden ist verflucht. Und du gehörst nicht zu den Verdammten ... Hel. Bitte.« Er drückte ihre Hand und schob sie von sich weg. Verwirrt blickte sie auf das, was er ihr gegeben hatte: ihre Augenklappe. Voller Wüstenstaub, aber unbeschädigt, mit dem eingeschobenen Silberling.

»Wieso -« Sie starrte ihn an. »Wieso gibst du mir die erst jetzt?«

»Du hättest mit dem toten Silber ja doch nur dein Auge verdeckt ... das wollte ich nicht.« Wie etwas Fernes spürte sie seine Finger an ihrer vernarbten Schläfe.

»Sag mir, was los ist. Wer war die Frau? Welche Sprache hast du gesprochen?« Die Fragen taumelten durcheinander, sie wusste gar nicht, ob sie überhaupt verständlich waren. Er ging einen Schritt rückwärts, dann noch einen, glitt von ihr weg. »Dich zu kennen, wird es mir schwerer machen. Und doch bereue ich unsere Begegnung nicht.« Sie sah ihn lächeln, trauriger, als Tränen sein konnten. »Ich werde an dich denken.«

Er trat zwischen die Häuser und war fort.

»Warte!« Sie lief ihm nach, sah den Saum seines Umhangs um die Ecke wehen. Hastig wollte sie die Augenklappe aufziehen, ließ sie stattdessen fallen, bückte sich und drückte das Silber auf ihr Auge. Schlagartig erloschen alle Lichter.

Hel keuchte. Für einen Moment hatte sie das Gefühl, im Ozean des Nichts zu ertrinken. All das Flimmern und Funkeln und Wimmeln verschwand so abrupt, als wäre der Tod über die Welt gefallen.

Unsicher zog sie sich an den Mauern hoch, schob sich durch den Häuserspalt und trat auf eine belebte Straße. Wie unecht alles wirkte! Die Zwerge, Menschen und Tiere waren plötzlich nur noch bewegte Bilder ohne Leben. Wo war der Junge? Im Gedränge weiter oben entdeckte sie einen dunklen Umhang. Hel lief los. Sie band sich die Augenklappe fest. Die Straße endete vor der Treppe, die sie zuvor hinuntergerannt waren. Von oben schwappte ihr der Lärm des Weinfests entgegen. Sie lief hinauf, drehte sich, entdeckte überall dunkle Mäntel ... war dort nicht eine Kapuze in der Menge?

»Mercurin! Warte!« Sie rannte ein paar Schritte, blieb unschlüssig stehen. Was wollte sie ihm überhaupt sagen? Aber er konnte sie doch nicht stehen lassen, nach dem Zwischenfall gerade, nach allem, einfach so, mit einem Haufen Fragen, ohne Abschied. Ohne ihr zu versichern, dass er nicht in Gefahr schwebte. Hel setzte sich wieder in Bewegung, drängelte sich an Tanzpaaren und Musikern und Sitzbänken vorbei, bis sie gegen eine Schulter rempelte und festgehalten wurde.

»Hel! Hel, zum Henker noch mal! Erkennst du mich nicht?«

Sie blickte auf und entdeckte Nova. So nah war sie ihm noch nie gewesen, durchschoss sie ein fahriger Gedanke. Die Kanten seines Gesichts wirkten deutlicher, dafür waren die Sommersprossen fast ganz verschwunden. Doch das Grinsen hatte sich nicht verändert. Der Schneidezahn, dem seit einer Sturmjagd ein Stück fehlte, und die weiße Narbe, die über seine Oberlippe führte. Mohnblumen klemmten hinter seinen Ohren. Glucksend schloss er die Arme um sie und zog sie an sich. Die Goldknöpfe seiner Jacke drückten ihr in die Wange. Als sie sich befreite, hob er sie hoch und wirbelte sie herum.

»Lass mich los, verdammt, Nova!«

Er stellte sie wieder ab und patschte ihr auf den Kopf, offensichtlich staunend, wie viel kleiner sie war. »Wie geht es dir? Hast du jemanden verloren? Wo ist Gharra?«

Sie wischte seine Hand weg und sah sich um. Lachende Gesichter. Wehende Röcke. Kein Kapuzenumhang. Der Junge war fort ... war fort. Für immer.

»Nein«, sagte sie. »Ich bin allein.« Und als sie in Novas dunkle, fröhliche, betrunkene Augen blickte, versank die Welt in einem Tränenschleier. »Ich bin allein ... die Schwalbe ist abgestürzt!«

Nova ging mit Hel unter eine einsame Treppe am Rand des Fests, wobei die Traube aus Bewunderinnen ihn nur widerwillig freigab. Eine junge Dame war so beharrlich, dass Nova Hel als seine verschollene Schwester vorstellen musste, damit sie ihn endlich losließ. Zähneknirschend beobachtete Hel, wie sie sich mit Luftküssen trollte. Seit Nova aus seiner storchbeinigen Kindheit herausgewachsen war, konnte er sich über einen Mangel an weiblicher Aufmerksamkeit jedenfalls nicht beklagen. Er hatte das leichte Lächeln seines Vaters geerbt und diesen hilflos-schelmischen Blick, dem man viel zu schnell verzieh. Aber Hel kannte ihn schon zu lange, um ihn nicht zu durchschauen. Manchmal hatte sie das Gefühl, dass sie die Einzige war.

Als er endlich den letzten Luftkuss aufgefangen hatte, wandte Nova sich ihr zu und wurde ernst.

»Also. Nun erzähl mir, was passiert ist.« Er legte eine Hand auf ihre Schulter. Aber nur weil er nicht mehr gerade stehen konnte. Ärgerlich sah Hel zu ihm auf. Die Augenklappe fühlte sich ungewohnt an, doch sie gab ihr Sicherheit. Nicht auszudenken, wenn Nova ihr Auge sah ... hoffentlich hatte er es vorhin in der Menge nicht gesehen.

»Die Schwalbe ist abgestürzt. Sie sind alle tot. Ich muss die Magierschaft in Kenntnis setzen.«

Er starrte sie an. »Aber – wie, das ist ja ... Aber wie?«

Sie zuckte die Schultern und schüttelte ihn dabei ab. »Ich weiß es nicht, deshalb will ich ja die Magier fragen.«

Eine Weile standen sie sich schweigend gegenüber. Die fröhliche Musik schien sie zu verspotten. Alles wirkte so unecht – es fühlte sich falsch an, über den Absturz zu sprechen, auf so nüchterne Weise, noch dazu mit Nova.

»Und sie sind alle ...? Das ... das tut mir leid. Ich ... und was machst du jetzt?«, fragte er leise.

»Keine Ahnung.« Hel starrte auf ihre Füße. Sie wusste wirklich nicht, was aus ihr werden sollte. Die Erkenntnis riss wie ein gähnender Schlund vor ihr auf.

Nova räusperte sich. »Dann hast du auch nichts mehr von dem Einzugsbefehl mitbekommen?«

»Was meinst du?«

»Die Magierschaft hat alle Schiffe nach Aradon gerufen.«

Hel machte große Augen. »Was, die ganze Liga?«

Nova nickte. »Ich wusste nicht, dass auch die Schwalbe angegriffen wurde. Es hat Unfälle bei drei Schiffen gegeben – der Adler, der Eule und der Kranich. Niemand weiß genau, was passiert ist. Es gab keine Überlebenden.«

Hel fühlte, wie etwas in ihr zusammensackte. Sie hatte viele Sturmjäger von den Schiffen gekannt. Gesichter und Erinnerungen schossen ihr durch den Kopf wie ein Hagel feiner Nadeln. Sie wollte etwas sagen, doch die einzigen Worte, zu denen sie fähig war, lenkten von ihrem Schock ab: »Und die Magierschaft hat nun ... hat die Liga nach Aradon gerufen?«