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»Um die Unfälle aufzuklären. Angeblich. Vielleicht hat jemand die Schiffe angegriffen. Vielleicht sind sie aber auch abgestürzt, weil etwas mit dem Lirium nicht gestimmt hat, und deshalb müssen jetzt alle anderen Schiffe überprüft werden. Es kursieren so viele Geschichten – halte dich bloß von den anderen Sturmjägern fern, wenn du dich nicht verrückt machen lassen willst. In Aradon werden wir Antworten kriegen.« Er sah sie besorgt an. »Die Taube fliegt morgen früh hier los. Wir könnten dich mitnehmen.«

Hel kaute auf ihrer Unterlippe. Morgen schon ... Sie schüttelte den Gedanken an den Jungen – Mercurin – ab und nickte. »Danke. Ich kann im Augenblick nicht bezahlen, aber die Magierschaft wird mir Geld leihen.«

Nova winkte ab. »Unsinn, Hel! Wir haben einen Gast auf der Taube, der uns für die Mitreise großzügig bezahlt. Einen blinden Passagier können wir uns leisten.«

»Danke. Ich zahl’s aber trotzdem zurück.«

Er sah sie mitleidig an und Hel wich seinem Blick aus. Sie würde Geld verdienen. Es gab genug Schiffe in der Liga, auf denen sie anheuern konnte. Irgendjemand würde sie schon nehmen.

»Also, die Taube liegt im Nordhafen, morgen bei Sonnenaufgang geht es los. Magst du solange hier bei uns bleiben? Die Jäger von der Albatros und der Möwe sind auch da, es ist eigentlich ganz lustig.«

Hel schielte zu einem Grüppchen lärmender Männer hinüber, die sich lautstark über abstürzende Schiffe unterhielten. »Danke, ich will lieber allein sein.«

»Bist du sicher? Ja, stimmt eigentlich.« Er kratzte sich den Kopf. »Du willst jetzt wohl ... Komm, ich setz mich mit dir hinten an die Tische.«

»Schon gut. Ich seh dich morgen beim Schiff.«

»Wirklich?«

Sie nickte wieder.

»Was machst du jetzt?«, fragte er unsicher.

Hel zuckte die Schultern. Bloß keine Tränen. Sie zog die Nase hoch und verschränkte die Arme. »Ich hau mich irgendwo aufs Ohr, bin hundemüde.«

»Ich glaube, Roian und Sillima sind auf der Taube geblieben, sie lassen dich rein. Warte.« Er nestelte an seiner Jacke herum und gab ihr eine vergoldete Manschette in Form eines Degens. »Sag, dass ich dich geschickt habe.«

»Alles klar«, murmelte Hel. »Und danke noch mal.«

Sie nahm die Manschette und ging. Irgendwas rief Nova ihr hinterher. Sie hörte es nicht mehr, wollte es auch nicht hören. Seine Unbeschwertheit machte sie wütend. Dabei half er ihr mehr, als sie hätte erwarten dürfen. Trotzdem konnte sie ihm nicht dankbar sein.

Hel lief vom Platz und tauchte in das Gassenlabyrinth ein. Überall strömte fröhlicher Lärm aus den Tavernen. Die ganze Welt schien zu feiern, und sie kam sich inmitten all der lachenden Leute so unendlich allein vor, dass es wehtat. Aber irgendwo war ja auch er – Mercurin. Allein. Von dunklen Sorgen verfolgt. Wieso hatte er sie einfach stehen lassen? Er hätte ihr doch vertrauen können ... welchen Gefahren er sich auch stellen musste, sie hätte versucht, ihm zu helfen. Sie schuldete ihm ihr Leben, und er gab ihr nicht einmal die Chance, sich zu revanchieren.

Hel ließ sich auf einer abgetretenen Stufe nieder und stützte das Gesicht in die Hände. Sie übertrieb, das wusste sie. Mercurin ging sie im Grunde gar nichts an. Sie suchte nur nach etwas, um sich abzulenken ... von dem, was jetzt auf sie zukam. Das war die eigentliche Wüste, die tödliche Leere: ihre Zukunft. Wenn sie den Magiern vom Absturz berichtet hatte, was sollte sie dann mit sich anfangen? Wer würde sie brauchen, wo doch so viele fähige Sturmjäger ihre Beschäftigung verloren hatten? Lirium verschwand, die Flotte der Liga verschwand, alles ging dahin ... es gab keine Aussicht, für niemanden.

Plötzlich wirkten die feiernden Gestalten gar nicht mehr so fröhlich. Der Mann, der unter den Anfeuerungsrufen der Menge einen ganzen Weinkrug leerte, und die beiden singenden Frauen mit den Säbeln – vielleicht waren sie einmal Sturmjäger gewesen, hatten erst ihre Jagdbeute, dann ihr Schiff und ihren Beruf verloren. Hel sah sich selbst zwischen ihnen, wie sie ihr restliches Leben in den Schenken verbrachte, mit Wein und den immer gleichen alten Abenteuergeschichten, auf der Flucht vor gestern und morgen. Aber die anderen hatten ihre Geschichten wenigstens erlebt. Für sie war alles vorbei, bevor es überhaupt angefangen hatte.

Sie ballte die Fäuste und spürte, wie sich Novas Manschette in ihre Handfläche bohrte. Der Schmerz war seltsam tröstlich. Rasche Tränen tropften ihr über die Wimpern, durchnässten die Augenklappe.

»Mädchen, alles in Ordnung?«, fragte ein Zwerg, der mit drei Kumpanen die Treppe heraufkam.

Hel nickte unangenehm berührt. Die Zwerge gingen vorüber. Doch als sie wieder allein war, fühlte sie sich noch elender.

Nach den Zwergen sprach sie niemand mehr an, obwohl sie immer wieder leise schluchzte. Schließlich stand sie auf, als hätte sie vergeblich auf jemanden gewartet, der alles wiedergutmachte, und schlich zum Nordhafen. Imposante Treppen und Spitzbogen lagen im Schein der mondfarbenen Leuchtkugeln. Hel stieg die Stufen so langsam wie möglich hinauf und ließ den Blick über die betrunkenen, tuschelnden oder schlafenden Gestalten links und rechts schweifen, ohne jemanden außer sich selbst wirklich wahrzunehmen. Ihre Schritte kamen ihr so schwer und endgültig vor, als hinterließe sie Abdrücke im Stein.

Eine breite Brücke führte zum Wachturm und der Anlegestelle dahinter, wo auf vielen Einbuchtungen im Fels Schiffe schlummerten. Hel meldete sich beim Wachturm als Sturmjägerin auf der Taube, doch ihr Name stand nicht auf der Besatzungsliste. Also zeigte sie Novas Manschette und erklärte den beiden Stadtwächtern die ganze Geschichte – zwecklos. Man ließ sie nicht ein.

»Warum denn?« Hel hob hilflos die Arme. »Ich bin unbewaffnet!«

»Was ist mit dem Degen?«

»Das?« Hel hielt die Manschette zwischen Daumen und Zeigefinger. »Damit könnte ich höchstens jemandem die Fingernägel putzen!«

»Verschwinde«, knurrte der andere Zwerg, »oder wir müssen dich in Gewahrsam nehmen.«

Mit zusammengepressten Lippen drehte Hel sich um und stapfte zurück zur Treppe. Vor lauter Wut liefen ihr wieder Tränen übers Gesicht und das machte sie noch wütender. Diese Wächter! Bestimmt lag es an ihrer Augenklappe – so eine verwegene Gestalt konnte ja nur eine Diebin sein.

Hel kauerte sich in die Schatten auf der Treppe und zog die Beine unter ihre Weste. Es war kalt und sie zitterte. Wie spät es wohl sein mochte? Dumpf stierte sie in den östlichen Himmel und wartete auf den Tag.

Sie hatte nie eine längere Nacht erlebt. Die Zeit wollte einfach nicht verstreichen. Immer wieder versuchte sie einzuschlafen, schloss die Augen und blendete die hartnäckigen Gedanken aus, aber jedes Mal kamen die Laute zurück, rollten blass schimmernd wie Quecksilber zusammen, Mercurin, und dann seufzte sie, weil sie seinen Namen hatte, aber den Jungen verloren hatte.

Wenn sie sich zu oft an ihn erinnerte, würde sein Gesicht verblassen, sie musste sparsam damit umgehen ... Schließlich nickte sie doch weg, taumelte durch leichte, blaue Träume und schrak hoch, besorgt, dass sie die Abreise der Taube verschlafen hätte. Aber es war noch dunkel, aus der Stadt waberte nächtlicher Lärm herauf ... sogar die drei Matrosen standen nach wie vor auf der Treppe, und wie es aussah, hatten sie ihre Weinflasche immer noch nicht geleert. Stöhnend lehnte Hel den Kopf zurück.

Schließlich tauchten die Matrosen ins Hafenviertel ab. Neue Gestalten gingen vorüber, kamen von den Schiffen oder kehrten zurück. Hel schlief nicht mehr ein, es war vergebens. Sie überlegte schon, zum Weinfest zurückzukehren und sich zu betrinken. Aber sie war verweint und wollte von niemandem gesehen werden.