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Ebenso sah sie den Tod des Lebendigen Landes. Das zähe Entrinnen der magischen Essenz war eine Alltäglichkeit geworden, denn Lirium wurde gejagt, gefangen und verbraucht. Bald würde nichts mehr da sein – vielleicht in zehn Jahren, vielleicht in zwanzig, wenn sie Glück hatten. Was dann geschah, wusste jeder, auch wenn niemand darüber sprach. Ohne Magie würden die Zivilisationen untergehen.

Hel atmete tief durch und hatte das Gefühl, Staub in die Lunge zu bekommen. Wäre Lirium nicht so knapp geworden, hätte die Schwalbe nie so nah an die Kauenden Klippen vordringen müssen. Doch weil die Quellen im Mittland erschöpft waren, musste die Liga der Sturmjäger ihr Jagdgebiet auf unwirtlichere Gegenden ausweiten. Ihnen blieb nichts anderes übrig, als sich der wandelnden Gebirgskette zu nähern, die jeden verschlang, der sie durchqueren wollte. Denn hinter den Kauenden Klippen verbarg sich das Alte Reich.

Ein feines Sirren erklang. Im nächsten Moment wehte Hel eine Sandwoge entgegen. Sie kniff die Augen zu. Die Körner trafen sie wie Nadeln, rieselten ihr durch die kinnlangen schwarzen Haare und in den Kragen ihrer Tunika. Einen Herzschlag später war alles vorbei. Das kam öfter vor, selbst in dieser Höhe. Auch ohne Augenklappe konnte Hel die Wogen nicht immer kommen sehen, denn der Sand war tot und leuchtete nicht.

Mit geschlossenen Augen beobachtete sie ein Blitzen in der Ferne, kaum heller als ein Stern. Sie trat an den äußersten Rand des Mastkorbs. Tatsächlich ... gegen Süden sickerte Licht aus dem Boden, so wie vor einem Liriumsturm. Doch in den südlichen Gebieten war schon lange keine Magie mehr. Oder? Lag dort eine einsame Liriumquelle im toten Land? Sie hatten seit Monaten keinen Sturm mehr gejagt. Wenn sich dort hinten einer zusammenbraute ...

Gerade wollte sie nach unten klettern und Alarm schlagen, da verschwand das Funkeln abrupt. Hel hielt inne, ein Bein über dem Korbrand. Der Wind zerrte an ihrem geflickten Mantel. Nichts. Der Funke war erloschen wie ein Kerzenlicht.

Verwirrt schüttelte sie den Kopf. Sie hatte es sich doch nicht eingebildet.

Hel wartete noch eine Weile, doch nichts regte sich mehr. Schließlich streifte sie sich die Augenklappe wieder über, die um ihren Hals hing, und kletterte die Strickleiter hinab.

Das Vorderdeck der Schwalbe lag verlassen im Dämmerlicht. Weil sie sparsam mit Lirium umgehen mussten, schwebte nur eine einzige Leuchtkugel bei Jureba: Die alte Trolltreiberin saß auf ihrem Balkonsitz, die Beine über den Vorsprung geschwungen, und las ein zerfleddertes Buch. Jureba war eine Isin. Sie war auf den Inseln geboren, die weit draußen im südlichen Meer lagen und nicht zu Aradon gehörten. Ihre Haut war dunkel wie die Planken des Schiffs und ihre Zähne waren viel länger und spitzer als die der Menschen. Hin und wieder schnalzte sie mit der Peitsche, um die Trolle unter ihr zur Arbeit zu mahnen. Sieben von ihnen waren an die große Kurbel auf dem Unterdeck gekettet, die unentwegt gedreht werden musste, um das Schiff anzutreiben. Früher war die Kurbel nur in Notfällen eingesetzt worden, doch heute konnte sich niemand mehr leisten, Lirium als einzigen Antrieb zu benutzen. Trollarbeit hingegen kostete nichts.

Im Halbdunkel wirkten ihre Körper wie zusammengepresste Felsbrocken. Massige Arme schoben die Holzpflöcke vor sich her und der Boden bebte im trägen Rhythmus ihrer Schritte. Trolle konnten doppelt so hoch wie Menschen werden und fünfmal so schwer; nur ihr Kopf war kaum größer als ihre Faust und sah zwischen den Schulterbergen geradezu winzig aus. Trotzdem war das Fassungsvermögen ihrer zahnlosen Mäuler nicht zu unterschätzen. Einst waren Zwerge ihre Hauptbeute gewesen – unter Umständen konnten sie sich aber auch Menschen oder Isen in den Rachen stopfen.

In sicherem Abstand blieb Hel stehen. Nicht weil sie fürchtete, auf die Kurbel zu fallen, sondern wegen des Gestanks, den selbst der Himmelswind aus keiner Trollachsel wehen konnte.

»Was liest du da?«, rief sie Jureba zu. Die Antreiberin neigte den Kopf, sodass ihr das Glasgestell, das sie beim Lesen immer trug, auf die Nasenspitze rutschte. Sie besaß ein ganzes Dutzend der geschliffenen Gläser, denn sie gingen regelmäßig zu Bruch. Wenn nicht bei der Sturmjagd, dann weil sie ihr unter die Trolle fielen oder weil sie betrunken gegen Wände lief. Als sie Hel auf der Brücke erspähte, zeigte Jureba ihr Krötengrinsen und hielt den Buchdeckel etwas höher: Fettflecken hatten den blauen Einband längst in ein schmieriges Grau verwandelt. Die geschwungenen goldenen Buchstaben waren schon vor Jahren sorgfältig abgekratzt worden.

Hel grinste ebenfalls. Jureba hatte ihr das Lesen beigebracht und sie dabei in die Vorlieben ihrer Lektüre eingeweiht: Sie verschlang ausschließlich anrührende Balladen, in denen es um liebeskranke Helden ging, die nach einem leidvollen und sehr gesprächigen Leben in Dolche rannten, Gift von den Lippen vergifteter Geliebter küssten oder über Klippen sprangen. Was genau Jureba daran faszinierte, war Hel nie ganz klar geworden. Jedenfalls stellten die Romanzen einen interessanten Gegensatz zu Jurebas anderer Leidenschaft dar, der Trollhaltung. Sie fütterte sie hingebungsvoll wie kein anderer mit blutigen Fleischkeulen und schlug auch nicht zimperlich zu.

»Die Leiden des jungen Waydir«, seufzte Hel, die Jurebas Lieblingsbuch erkannte. Laut sagte sie: »Großartige Schlachtszenen! Achtzehn rollende Köpfe auf drei Seiten!«

»Die Stelle kann man nicht oft genug lesen«, rief Jureba zurück und schwenkte Peitsche und Buch. Vor dem Großteil der Mannschaft – nämlich denen, die nicht lesen konnten – stellte sie den Inhalt ihrer Bücher ein wenig roher dar. Die belesene Besatzung schwieg taktvoll.

»Hast du schon gegessen?«, erkundigte sich Hel.

»Keine Faser! Sei doch so nett und schick Yola mit einem Tritt in den Hintern hoch, ihre Schicht hat längst angefangen.«

»Aye, Aye!« Hel lief über die Brücke, die im Fahrtwind sanft schwankte. Unter ihr rasselten die Ketten der Trolle. Siebzehn Schritte maß die Brücke jetzt – früher waren es mehr gewesen, als Hel noch kürzere Beine gehabt hatte. Lange Zeit war sie keinen Zentimeter gewachsen, doch letzten Sommer hatte sie endlich einen »Schub gemacht«, wie Gharra behauptete – auch wenn die Bezeichnung Hel reichlich übertrieben schien. Irgendwie war sie schlaksiger und tollpatschiger geworden, und zum ersten Mal hatten Hüften und Taille nicht mehr denselben Umfang, aber das war so gut wie alles. Ihr pausbackiges Gesicht mit dem spitzen Kinn und der Stupsnase kam ihr nicht im Entferntesten so erwachsen vor, wie sie sich mit höchstens siebzehn, mindestens fünfzehn Jahren fühlte. Nicht nur Hels genaues Alter war im Dunkel ihrer Kindheit verschollen. Auch ihr Wachstum war vom Hungern in vergangenen Tagen beeinflusst, daran änderte selbst die gute Verpflegung auf der Schwalbe nichts. Wahrscheinlich würde sie immer klein bleiben.

Mit einem Sprung legte sie das letzte Stück zurück und landete auf dem Hinterdeck – früher hatte sie sich oft ausgemalt, wie die Brücke just in diesem Moment riss und sie sich in aller Knappheit retten musste. Natürlich war die Brücke nie gerissen. Links und rechts säumten sie Rohre mit Lirium. Selbst wenn sich alle Taue auflösten, würde sie noch in der Luft schweben.

Vor Hel lag der Eingang ins Schiffsinnere. Auf die Trollquartiere und Frachträume türmten sich zwei Etagen, die die Mannschaft bewohnte. Darüber thronte ein fünfeckiger Pavillon, die Kapitänskajüte. An den Flanken des Schiffes waren die Träger befestigt: große Ballons aus Keilpferdleder, umspannt von versilberten Drahtnetzen, mit denen bei der Sturmjagd Lirium gefangen wurde. Sie waren jetzt fast leer.