Das ist für euch, dachte sie. Mögen eure Lichter im Himmel bei den Stürmen sein.
Vorsichtig kippte sie den Inhalt in ihre Handfläche. Die schwarzen Funken schlugen kribbelnd auf ihre Haut und schwelten dort, heiß und kalt. Hel hob die Hand und streckte sie aus, dachte fest an Gharra, Jureba und die anderen und erlaubte dem Lirium davonzuwehen. Funke um Funke wirbelte fort. Lauter Augenblicke, die ihr Leben ausgemacht hatten und nun verloren waren. Mit Tränen in den Augen sah sie zu, wie die Lichter im Dunkel verschwanden ... in einem Maul verschwanden.
»Tix!« Sie schnappte nach Luft. Gharras Pixie! Mit weit aufgerissenem Maul sirrte er hinter dem Schiff her und fraß die Liriumfunken.
»Hör auf!« Ihre Stimme wankte vor Wut – und Freude. Es war, als wäre ein Teil von Gharra zurückgekehrt. Den Pixie zu sehen, erinnerte sie so sehr an den Kapitän der Schwalbe ... und auch daran, wie Tix sie einfach im Stich gelassen hatte, als das Schiff abgestürzt war. Sie ballte die Fäuste.
»Was machst du hier?«
Er schnappte nach den verbliebenen Funken. »Blöde Frage – fressen!«
Kaum hatte er den letzten Happs gemacht, sauste er kichernd in die Dunkelheit davon. Hel lehnte sich über die Reling, aber von dem Pixie war nichts mehr zu sehen.
Es war keine Seltenheit, dass Geister, die lange in Gefangenschaft gelebt hatten, in der Nähe von Menschen blieben. Sie waren daran gewöhnt, gefüttert zu werden. Hel biss die Zähne zusammen. Wenn Tix die ganze Zeit nicht weit von ihr entfernt gewesen war, wieso hatte er sich nie bemerkbar gemacht? Sie hätte seine Hilfe gebraucht, als sie sterbend in den Trümmern lag oder als sie Mercurin für einen Sklavenhändler hielt. Nach all den Jahren, die sie zusammen gewesen waren, verletzte Hel seine Treulosigkeit.
Natürlich war das albern. Geister waren eben keine fühlenden Wesen, das durfte man nicht vergessen. Sie zog die Nase hoch und öffnete den Flakon. Vorsichtig kippte sie den Rest Lirium auf die Reling. »Tix!«
Wie erwartet tauchte er auf und stürzte sich auf das Mahl. Hel trat zurück und beobachtete ihn. Sie könnte ihn ganz leicht in Gefangenschaft zurückzwingen. Wenn Geister fraßen, befanden sie sich in einer Art Trance, in der sie schwach und verführbar waren. Sie müsste ihm nur einen Tausch vorschlagen ... sein Herz gegen mehr Lirium.
Aber wozu? Hel wollte niemanden, nicht einmal einen Pixie, dazu zwingen, bei ihr zu bleiben. Und was nützte seine Gegenwart, wenn sie doch wusste, dass sie ihm vollkommen gleichgültig war?
»Ich hoffe, du hast noch ein schönes Leben«, murmelte Hel. Der Pixie sah sie nicht einmal an. »Vergiss Gharra nicht so schnell.«
Sie drehte sich um und ging. Tix blieb zurück, wortlos wie die Vergangenheit.
Als Hel unter Deck kam, rauschte gerade die Magierin aus der Speisekammer, ein weißes Rüschen- und Spitzengespenst im dämmrigen Flur. Eine Schachtel kandierter Beeren lag in ihren Armen. Kaum hatte sie die Tür hinter sich zugeknallt, hörte Hel abermals Geräusche aus der Speisekammer. Eine Leuchtkugel flog heraus, gefolgt von Nova.
Hel kam die Stufen hinab. »Was war das denn?«
»Hm?« Er verschränkte die Arme hinter dem Rücken. Das Licht blieb über ihnen schweben und zeigte ihr sein Grinsen.
»Du warst in der Speisekammer mit der Magierin!«
Er sah sie verständnislos an, noch immer lächelnd.
»Was habt ihr gemacht?«
»Gar nichts«, erwiderte er, und seine Augenbrauen zuckten zusammen.
»Du lauerst ihr doch auf!«
Mit einem Grinsen schob er sich an ihr vorbei. In drei Sprüngen war er die Treppe hinauf. »Meinst du nicht, du lauerst mir auf?«
Ehe Hel etwas erwidern konnte, war er mit dem Licht verschwunden. Ein Dutzend giftiger Antworten auf der Zunge, brauste sie in ihre Kammer und ließ sich so schwungvoll ins Bett fallen, dass die Zwergin unter ihr ein überraschtes Fiepen ausstieß.
»Gute Nacht!«, bellte Hel.
Am nächsten Tag ging sie Nova aus dem Weg – je länger sie über seine Worte nachdachte, umso dreister kamen sie ihr vor. Sie lauerte niemandem auf. Schon gar nicht ihm. Nova kannte sie ja überhaupt nicht. Sie war mit Mercurin durch die halbe Wüste gereist, hatte dem Tod ins Auge geblickt und war auf einem Lymaerus geritten – nach diesen Abenteuern war Novas kindisches Gehabe nicht mehr sehr spannend für sie.
Doch trotz ihrer düsteren Miene schien er nicht einmal zu merken, dass sie ihm böse war. Ohne das geringste schlechte Gewissen quetschte er sich zum Abendessen neben sie auf die Bank und ließ beim Beladen seines Tellers Bratensoße in ihren Kelch tropfen.
»Du hast in meinen Wein gekleckert«, knirschte sie.
»Hm? Ach so.« Er nahm ihren Kelch und trank ihn leer. »Hier.« Gönnerhaft schenkte er ihr ein. »Weißt du was, Hel?«, fuhr er etwas lauter fort. »Vor ein paar Monaten haben wir Schaumseife aus Kapua nach Aradon geliefert. Die beste Seife, die es gibt. Vorhin hab ich im Frachtraum ein Fläschchen gefunden. Es muss herausgefallen sein.«
Hel sah ihn verwirrt an, dann die versammelten Sturmjäger. Jeder schien plötzlich sehr an seinem Essen interessiert.
»Die Seife riecht nach Rosen. Ich hab gleich an dich gedacht.«
»Wieso, stink ich?«, entgegnete Hel grob.
Seine Mundwinkel zuckten, in den hellbraunen Augen lag ein Funkeln, dem man nur schwer standhalten konnte. »Nein, natürlich nicht. Aber wenn ich was zu verschenken habe, bist du die Erste, an die ich denke.« Er machte eine kleine Pause. »In meinem Zimmer steht eine Waschschüssel und ich hab dir auch ein frisches Handtuch hingelegt.«
»Ich soll mich in deinem Zimmer waschen?«
»Ich warte natürlich draußen.«
Die Stille lag auf ihren Ohren wie Blei. Dann lachte Kapitän Nord. »Wohl gesprochen, mein Sohn. Die Damen, die sich an Seife erfreuen, erfreuen auch uns, also ... zum Wohl!« Er hob den Kelch und trank.
Klirrend bohrte die Magierin ihre Gabel durch den Braten.
Tatsächlich hatte Hel sauberes Wasser bitter nötig. Weil sie langsam Angst bekam, dass der Schmutz in ihre Haut einzog, willigte sie ein und ließ sich nach dem Essen in Novas Zimmer führen. Vielleicht war es ja seine Art, sich bei ihr zu entschuldigen. Oder er verteilte seine Freundlichkeit genauso bedenkenlos wie seine Unverschämtheiten.
Sein Zimmer war ein Chaos. Schwer zu sagen, wo das Bett aufhörte und die Kleiderhaufen und Bücherstapel begannen. Der Boden war ein Dickicht aus Gerümpel – auseinandergenommene oder halb zusammengebaute Gerätschaften, Säbel und Zierdolche, zerknüllte Briefe und verdorrte Blümchen.
»Ach, du meine Güte«, murmelte Hel.
»Das Wasser ist gleich warm.« Nova zündete den magischen Brenner unter der Schüssel an. Dann zog er eine Flasche Schaumseife aus der Kommode und kippte den violetten Inhalt ins Wasser. Ein betörender Duft verbreitete sich. Schaum wuchs knisternd in der Schüssel.
»Du musst hier aufräumen, Nova! Ich helf dir, wenn du willst.« Kopfschüttelnd zog sie ein Wurfmesser aus einem schon ganz durchlöcherten Wandteppich. Nova nahm ihr das Messer weg und stakste zur Tür zurück. »Nein danke, ich mag meine Sachen, fass nichts an!« Dann tippte er sich an die Schläfe: »Ich riech dich später.« Und war verschwunden.
Hel vergewisserte sich, dass die Tür geschlossen war, und schob noch einen Hocker davor. Als sie sicher war, dass niemand hereinplatzen konnte, zog sie die Weste aus und löste den Verband. Die Stoffstreifen waren steif vor Schmutz, Sand rieselte zu Boden. Die Haut darunter war blass wie Milch. Hel drehte sich und musterte ihre Rippen und den Rücken im Spiegel. Nichts deutete auf ihre Verletzungen hin, nur ein paar blassgrüne Flecken waren geblieben, wo die Brüche gewesen sein mussten. Es war ihr ein vollkommenes Rätsel.
Als sie die Augenklappe abnahm, stand sie ihrem Spiegelbild lange reglos gegenüber. So hatte Mercurin sie also gesehen. Das Gesicht mit der hohen Stirn, den blassen Lippen und dem ... es fiel ihr schwer, ihr linkes Auge als Teil ihres Gesichts zu akzeptieren. Es war einfach da. Wie ein böser Scherz.