Die folgenden drei Tage hieß es warten. Darin waren die Sturmjäger erprobt. Sie verbrachten die Zeit damit, zwischen den großen Kaminzimmern und dem Speisesaal umherzuwandern, zu spielen und über die Versammlung zu spekulieren. Elina, eine Sturmjägerin auf der Amsel, war die Geliebte von Orriw gewesen und brach weinend zusammen, als sie erfuhr, dass die Gerüchte stimmten und die Schwalbe abgestürzt war. Hel wollte sie trösten, wusste aber nicht, was sie sagen sollte. Worte halfen auch nicht. Eine Handvoll Sturmjäger, die beim Absturz der Schwalbe oder eines der anderen drei Schiffe eine geliebte Person verloren hatten, fanden sich in stillem Einverständnis zusammen. Es war die traurigste Gesellschaft, die Hel je erlebt hatte, vor allem unter Sturmjägern. Stumpf starrten sie aneinander vorbei, vergaßen das Essen und Trinken oder tranken zu viel. Doch während die anderen Sturmjäger fast pausenlos über die verlorenen Schiffe sprachen, interessierten die Trauernden sich kaum für Gerüchte. Schon aus dem Grund hielt Hel sich bei ihnen auf. Niemand nötigte sie, ihre Geschichte wieder und wieder zu erzählen, oder belästigte sie mit schmerzlichen Fragen. Nur wenn Nova sie zum Lesen oder Würfelspielen holte, ging sie zu den anderen zurück. Sie wusste, er wollte sie aufmuntern. Auch wenn es ihm nicht gelang, die Absicht zählte, und Hel wollte ihm zumindest den Eindruck vermitteln, dass er ihr half.
Allerdings wurden sie fast jedes Mal von Eiligen Federn gestört, die Nova Nachrichten seiner Liebsten brachten. Irgendwann waren seine Papierzettel vollgekritzelt und er musste mitten in einem Federballspiel seinen Arm hinhalten, um zu erfahren: »Ich habe dem Pixie unser Lied beigebracht. Hundert Küsse!«
Hel bemerkte wohl, wie das anfangs noch verzückte Grinsen allmählich einem zusammengepressten Mund wich, aber sie stocherte nicht in Novas Liebesangelegenheiten. Auch als er anfing, laut zu seufzen, vor aller Augen die Briefe zerknüllte und die Eiligen Federn in Schränke schloss, bevor sie ihre Botschaft schreiben konnten, fragte Hel nicht nach. Sie ahnte, dass Nova nur auf eine Gelegenheit wartete, ihr sein Leid zu klagen. Doch es interessierte sie nicht, was zwischen ihm und Aricaa vorging. Er konnte sie nicht ausschließen und einweihen, wie es ihm gefiel.
Nachts schlief Hel schlecht. Sie konnte nur schwer eindösen und schrak aus Albträumen auf, die ihr Herz schmerzhaft rasen ließen und ihr die Luft abschnürten. Immer wieder glaubte sie, Sand unter den Fingern zu fühlen, kriechend, sich windend wie ein lebendiges Wesen.
Schweißgebadet wälzte sie sich in den Laken. Das Zimmer kam ihr stickig vor. Weil sie nicht im Dunkeln liegen bleiben wollte, berührte sie die Leuchtkugel und tapste im matten Schein zum Fenster. Sie schob es auf und beugte sich weit hinaus in die Nacht. Der stürmische, kalte Wind fühlte sich gut an.
Weit unten lagen die Lichter der Uferstadt wie angespülte Goldkörner. Auch aus den vier Türmen der Magier drang Helligkeit aus unzähligen Fenstern. Hel schloss halb die Augen, sodass die Lichter verschwammen, und dachte an das viele Lirium, das in diesem Moment verglühte.
Es war doch merkwürdig, dass jeder Lirium gebrauchte, aber nur die Magier wussten, wie Feenlichter funktionierten. Die unscheinbaren Steine, die Lirium magisch anzogen und aufnahmen, bestanden aus einer Substanz, die nur Magier herzustellen wussten. Feenlichter steckten in den Fangballons der Sturmjägerschiffe und konnten ganze Liriumstürme verschlucken. Aber es gab auch kleine Feenlichter, nicht größer als eine Faust, die man zum Schutz bei sich trug. So konnte einem das Lebendige Land nichts anhaben.
Erst wenn ein Feenlicht zu glimmen begann, war es ganz mit Magie gefüllt und musste der Magierschaft zurückgegeben werden, damit sie das Lirium daraus befreite und das Feenlicht wieder verwendbar machte. Auch diese Prozedur war streng geheim.
Hel sog noch einmal tief die frische Luft ein, dann schloss sie das Fenster und kroch ins Bett zurück. Ohne Schlaf zu finden, wartete sie auf den Morgen. Doch die Nacht war lang. Und Hel konnte nicht aufhören, an die Lichter zu denken, die dort draußen verglühten.
Zwischenzeit
Das KIND sah Menschen im Land und im Himmel und ES nahm ihnen Licht.
Nomaden kamen mit Tierherden über die Hügel. Keilpferde trotteten in ihrer Mitte, das Klirren von Glöckchen, Kinderlachen und Wiehern umwölkten den Zug. Wie Schmuck lagen Feenlichter um ihren Hals, die die Erde ihres Lichts beraubten. Aber das KIND war gekommen, und das KIND trug das dunkle Herz, das mächtiger war als ihr Zauberwerk.
Die Menschen sahen ES auf dem Hügelkamm stehen und deuteten hinauf. Die Tiere waren klüger, sie sahen nicht nur, sie spürten ES und drängten nervös zurück. Das KIND hob einen Finger, dann den Arm. Rasche Wolken zogen Schattenflecken über das Land, wie körperlose Fische glitten sie über die Hügel, riesig, bewusstlos.
Dann lag alles ruhig da, Tiere, Menschen und ihr buntes Gepäck. Nur die Glöckchen klirrten und nur die Wolkenschatten wanderten weiter. Das KIND nahm den Arm wieder unter den Umhang. Zog mit den Schatten durch das Land.
Ein Schiff flog über den Wäldern, eins, das Stürme jagte, den reinen Atem des Landes. Das KIND sah, wie sich Licht durch die Rohre quälte. Und der Zorn wogte in IHM auf, schwer und gut. SEIN Finger hob sich. Das dunkle Herz ging auf und rief das Licht zu sich. Rohre platzten, Licht kam frei. Licht kam. Zu IHM.
Das KIND schlug den Umhang zurück, die Kapuze, fraß das Licht, ließ sich fressen. Macht! Ergeben ... Tod für Leben, Leben nimmt Tod. Im Chor von hundert Schreien sank das Schiff.
Magier
Am Morgen des vierten Tages holte ein junger Magier die Sturmjäger ab, um sie zum Westturm zu bringen, wo die Versammlung stattfinden sollte. Ein Schiff der Liga war allerdings noch nicht in Aradon angekommen. Als jemand nach der Habicht fragte, zog der Magier die Schultern hoch und erwiderte hastig, dass bald alles erklärt würde.
Der Wind wehte stark, als sie die Steinbrücke zum Westturm überquerten. Das weiße Haar des Magiers tanzte vor ihnen her wie Spinnweben. Hel zog sich die Weste enger um den Körper.
Der Westturm war von unzähligen Bogenfenstern durchzogen, Reihen über Reihen wie gebleckte Zähne. Hier lagen die Versammlungsräume und Ratssäle, in denen die Magierschaft über das Schicksal der Welt bestimmte. Hel versuchte, sich zu erinnern, wann sie zum ersten Mal hier gewesen war. Sie musste damals sehr klein gewesen sein und erinnerte sich nur noch an die bunten Fenster, durch die das Licht in lauter verschiedenen Farben eingefallen war.
Der Magier führte sie durch hohe Pforten. Türen öffneten sich durch ein rasches Schwenken seines Stabes, dessen Schlichtheit verriet, dass der Magier keinen sehr hohen Rang innehatte. Aber schließlich war er noch jung.
Sie betraten eine fünfeckige Halle. Sitzreihen waren an vier Wänden aufgezogen, nur die Stirnseite der Halle bot einer Empore Platz, auf der fünf prächtige Stühle standen. Darüber ließen meterhohe Fenster das Morgenlicht ein. Beim Betreten der Halle blendete das Licht Hel so sehr, dass sie nicht gleich wusste, ob die Sitzreihen leer oder schon besetzt waren.
Doch es war noch niemand da. Natürlich. Die Magier warteten nicht, sie ließen warten. Der junge Mann wies den Sturmjägern ihre Plätze zu. Die Mannschaften sollten ihrem Jagdgebiet entsprechend von links nach rechts und West nach Ost sitzen.
Etwas verzagt blieb Hel vor dem Magier stehen, als alle anderen ihre Plätze suchten, und sagte, dass sie die einzige Jägerin der Schwalbe sei.