Eine Spiraltreppe führte ins erste Stockwerk und knarzte Hel eine vertraute Melodie, wie unter den unzähligen hastigen Füßen davor, die sie glatt getreten hatten. Sie mündete in einen schmalen Flur voller Türen. Hel schob eine davon auf und betrat den Speiseraum.
Ein säuerlicher Geruch empfing sie. Offenbar gab es Sandwurm. Schon wieder.
»He, Hel! Schon was gesichtet?« Perrin, einer der Matrosen, ließ ein Deck Spielkarten durch seine Hände flattern. Die anderen Sturmjäger am Tisch blickten hoffnungsvoll zu ihr auf.
Sie schüttelte den Kopf. »Nichts Neues. Ist Gharra oben?«
»Schon den ganzen Tag«, sagte Perrin. »Spielst du mit? Gleich gibt’s Essen.«
»Wenn man das Zeug so nennen mag«, grummelte sie, stieg über den Tisch und rutschte zwischen Lino und Yola, die beiden Gehilfen von Jureba. Mit ihrem breiten Kreuz und den flächigen Gesichtern glichen die Geschwister einander wie ein Ei dem anderen, abgesehen von dem kleinen Unterschied, dass Lino ein Junge war und struppige Koteletten hatte.
»Jureba wartet auf dich«, richtete Hel Yola aus, die diese Nachricht ebenso wenig rührte wie alles andere, was man ihr sagte. Gelassen nahm sie die Karten in die Hand, die Perrin austeilte.
»Ich hab eine Glückssträhne«, meinte sie seelenruhig. Hinter ihren kräftigen Armen lagerte ein Haufen Kupfermünzen. Hel warf einen raschen Blick in die Runde, während sie ihre Karten annahm. Wie es aussah, gründete Yolas Glückssträhne sich auf Meister Zarips Pech: Ausgerechnet der Zahlmeister der Schwalbe, ein alter Sturmjäger, der das windige Deck für die Vorratskammern im Schiffsbauch aufgegeben hatte, kauerte verbittert über seinen letzten drei Münzen. Sonst hielt Meister Zarip sich den Kartenspielen fern, doch die Langeweile, die mit dem Verschwinden von Lirium einherging, ließ so manchen Sturmjäger seine Prinzipien vergessen. Dem Zahlmeister war das heute teuer zu stehen gekommen. Der Rest der Mannschaft machte sich einen Spaß daraus, dem geizigen Zarip Münze für Münze vom Geldring zu ziehen, denn anders als sie spielte er nicht regelmäßig genug, um alle Betrügereien der Sturmjäger zu durchschauen.
»Ja, Yola muss die Runde noch bleiben«, gluckste der dünne Relik, der trotz seiner dreißig Jahre wie ein Knabe im Wachstum aussah. Hinterlistig lugte er auf Meister Zarips Karten. »Drei Kupfermünzen sind noch zu holen.«
»Wer sagt denn, dass nach den Münzen Schluss ist?« Orriw, der berüchtigtste Sturmjäger der Schwalbe und unangefochtene Meister jeden Wetttrinkens, entblößte seinen Goldzahn. »Meister Zarip trägt doch ein hübsches Halstüchlein, also ich würde darum spielen! Daran wisch ich meinen Säbel sauber.«
Bleich vor Zorn fasste Meister Zarip nach seinem seidenen Tuch. »Das ist von meiner verstorbenen Großtante!«, fauchte er ins Gelächter. Hel kannte keinen Sturmjäger, der sich so piekfein kleidete wie der Zahlmeister. Sein Sortiment an Halstüchern, Anstecknadeln und Manschetten war schier unerschöpflich, genau wie seine verstorbene Verwandtschaft, die ihm die kleinen Schätze vermacht hatte. Allerdings ging das Gerücht um, dass die toten Stiefgroßmütter allesamt erfunden waren und Zarip sich den Plunder selbst zusammenhortete. Während unter den Sturmjägern ein Streitgespräch über tote, vielleicht nie am Leben gewesene Angehörige begann, wanderten Hels Gedanken zu dem eigenartigen Funkeln zurück. Wie hatte es einfach auftauchen und verschwinden können, mitten in der toten Wüste? Sie musste mit Gharra sprechen. Durch das Fernrohr konnten sie sich die Stelle genauer ansehen.
Aber davor gewann sie vielleicht noch ein bisschen Kupfer ... Hel betrachtete ihre Karten und schob die zwei Nixen nebeneinander, außer denen ihr Blatt nicht viel hergab. Hatte sie nicht noch eine Magierkarte im Stiefel ...?
»Du bist dran!« Lino stieß sie gegen die Schulter und versuchte dabei, einen Blick auf ihre Karten zu erhaschen. Hel legte alle außer den Nixen zurück und zog eine Vier, einen Kobold und einen Reiter vom Stapel. Nicht gerade ein Glücksgriff. Sie räusperte sich und ließ die Hand unauffällig unter den Tisch zu ihrem Stiefel gleiten.
In dem Moment schwang die Küchentür auf. Die Sturmjäger grölten, als Bassia aus Dampf und Rauch erschien wie ein Bote der Unterwelt, im Arm einen zischenden Kessel. Aus den Schubladen unter dem Tisch wurden Schüsseln befördert und etliche dort deponierte Spielkarten verstohlen entfernt.
»Platz«, grunzte Bassia. »Macht Platz, ihr Dreckskerle.«
Er wuchtete den Kessel auf den Tisch und warf sich die beiden Handlappen über die Schultern. Seine muskelbepackten und tätowierten Arme gemahnten an seine Zeit als Söldner, das knochige, sonnengegerbte Gesicht war gezeichnet von gefährlichen Fußreisen durch die Wüste. Dass er gerne kochte – oder überhaupt etwas gerne tat -, war schwer zu glauben, zumal sich seine kulinarischen Künste nur durch Bescheidenheit auszeichneten. Genau genommen konnte er gerade einmal ein Gericht: Sandwurm. Gepökelt, gebraten, gehackt oder in Essig eingelegt, das Fleisch des wirbellosen Wüstentiers war Bassias Spezialität. Deshalb hatte Kapitän Gharra ihn auch als Koch angeheuert, denn Sandwurm war seine Leibspeise. Leider sah es bei der Mannschaft anders aus. Trockener Zwieback war beliebter.
»Und was hast du uns heute gezaubert?«, fragte Orriw mit einem beängstigenden Grinsen. Er und Bassia konnten sich nicht ausstehen. Jedenfalls war Hel zu dem Schluss gekommen, obwohl sie die beiden Männer beim besten Willen nicht verstand. Sie piesackten sich unaufhörlich, ohne dabei den feinen Ton zu verlieren. Wenn die Nächte lang wurden und die Weinfässer sich leerten, tauschten sie hin und wieder ein paar Kinnhaken aus. Waren erst genug Krüge zerschmettert, wünschten sie sich gute Nacht und gingen zu Bett. Es war, als hätten sie einen Pakt geschlossen, ihren andauernden Streit unter keinen Umständen zu beenden, sei es durch Diplomatie oder Gewalt. Hel konnte nur vermuten, dass sie ihre Feindschaft insgeheim genossen. Sie gab ihnen Beschäftigung in ereignislosen Zeiten.
»Es gibt Zwiebelsuppe mit Sandwurm«, erwiderte Bassia, die Zähne ebenfalls zu einem Lächeln gefletscht. Ein Murren von Meister Zarip veranlasste den Koch, seinen gefährlichen Blick von Orriw abzuwenden.
»Zwiebeln?«, jammerte der Zahlmeister. »Warum bei allen Gemüsen Zwiebeln? Wir haben Kartoffeln, vier Kisten voll!«
Bassia breitete die Arme aus. »Seh ich aus, als wüsste ich, wie man Kartoffeln macht?«
Zarip säuselte leise Verwünschungen. »Die Großcousine meines Vaters, eine fabelhafte Köchin war das, in Speck gebratene Kartoffeln und Käse mit Pilzen und zum Nachtisch Feigen ...«
»Du hast überhaupt noch nie dieses Zeug gegessen, denn dein Täntchen hat’s nie gegeben!«, blaffte Bassia.
»Ich steig aus.« Hel legte ihre Karten unter den Stapel, bevor das allabendliche Tischgespräch losging. Außerdem hatte sie den Magier doch nicht mehr im Stiefel.
Sie füllte zwei Schalen mit Suppe, und nachdem sie alle auffindbaren Wurmstücke aus einer Schale in die andere versetzt hatte, kletterte sie über den Tisch. »Ich bin bei Gharra. Yola, du solltest wirklich bald Jureba ablösen. Du weißt doch, wie sie es hasst, wenn das Essen kalt ist. Viel Glück beim Spielen, Zarip!« Als sie am Zahlmeister vorbeistieg, lehnte sie sich zu ihm hinab und raunte: »Lino hat drei Könige.«
»Drei Könige? Ja, aber ... ich hab doch schon zwei Könige!«
Eilig lief sie aus dem Raum und stieß die Tür auf. Hinter ihr verblasste das Gezanke der Mannschaft im Küchendampf. Sie stieg die Treppen nach oben, immer zwei Stufen auf einmal nehmend. Wohlige Stille und Dunkelheit herrschten in den höheren Fluren. Als endlich die eisenbeschlagene Tür über ihr erschien, ging ihr Atem schwer. Hel musste die Schüsseln in eine Hand nehmen, während sie den Türring aufdrehte. Wind hauchte ihr entgegen. Hier oben, auf der höchsten Plattform des Schiffs, schien der Himmel näher zu sein als die Erde. Das Land war längst in Nacht ertrunken.