»Sie ist nicht meine Verlobte!« Entsetzt starrte er das zerknitterte Papier an. »Aricaa, zum Henker, wir kennen uns seit zehn Tagen! Ich könnte ein gefährlicher Wahnsinniger sein! So wie du!«
Hel bekam vor Wut kaum noch Luft. Zitternd richtete sie sich vor ihm auf. »Nova ... weißt du was?«
Er sah sie leidend an.
»Ich würde dir jetzt eine reinhauen. Aber mir fehlen acht muskelbepackte Fäuste, um dir zu verpassen, was du verdienst.«
Er schien aus allen Wolken zu fallen. »Wa ... was?«
Er war ein hoffnungsloser Fall. Stumm vor Zorn wirbelte Hel herum und wollte die Tür aufreißen, aber Nova kam ihr zuvor und schob sie wieder zu. Sie schlug mit der Faust auf seine Hand. Ächzend ließ er die Türklinke los.
»Du schäbiger Feigling, du! Du willst nicht mitkommen, um mir beizustehen, es geht natürlich nur um dich!«
»Wieso denn? Ich brauch deine Hilfe und du brauchst meine. Dafür sind Freunde doch da.«
»Nein. Das ist keine Freundschaft. Das ist genau das Gegenteil davon.«
Sie öffnete die Tür, er drückte sie abermals zu. »Also gut, ich bin feige, in Ordnung? Ich geb’s zu! Ich bin ... zu feige, um mich mit einer Wildfremden zu verloben, die nichts anderes zu tun hat, als Eilige Federn zu verbrauchen!«
»Weißt du was, Nova? Aricaa ist vielleicht verrückt, aber nur weil sie sich in jemanden wie dich verliebt hat.« Energisch schlug sie seine Hand von der Tür weg und zog sie schwungvoll auf. Als sie draußen stand, stieß sie ihm den Brief gegen die Brust. »Und es gibt nur einen Grund, warum ich nicht verhindern werde, dass du nach Moia mitkommst. Und zwar, um Aricaa einen Verlobten wie dich zu ersparen!« Damit ließ sie ihn stehen und stapfte den Gang hinunter. Nach ein paar Schritten drehte sie sich noch mal um: »Und weil es gut möglich ist, dass du mit uns draufgehst!«
Sie rief es so laut, dass ein paar Sturmjäger in der Halle aufsahen.
Hel schloss sich für den Rest des Tages in ihrem Zimmer ein, ging unruhig auf und ab und warf sich aufs Bett, nur um gleich wieder aufzustehen. Sie war so wütend. Auf Nova. Auf die Magier. Auf die ganze Welt, die Fürsorge heuchelte und in Wahrheit nur wegnahm, stahl und wollte.
Als sie sich einigermaßen beruhigt hatte, stand sie lange ans Fenster gelehnt, rieb die Narbe an ihrer Schläfe und kaute an ihren Fingernägeln. In einem Augenblick überkam sie Panik, im nächsten völlige Ratlosigkeit. Sie wusste gar nicht, was auf sie zukam. Was man von ihr wollte. Und ob sie das überhaupt wollte.
Die Magier boten ihr eine Chance, den Mörder von Gharra und den Sturmjägern zu finden. Sie konnte sich rächen und endlich Klarheit bekommen. Trotzdem ... gefragt worden war sie nicht, es war eine Entscheidung über ihren Kopf hinweg gewesen. Sie versuchte, sich Rebellen vom Isenvolk vorzustellen ... oder einen Dämon ... aber sie spürte keinen Hass. Nur Angst. Gähnendes Nichts und die Frage nach dem Warum, die niemand beantworten konnte.
Sie stützte den Kopf in die Hände. Rebellen oder ein Dämon. Oder ein Dämon.
Sie wollte seinen Namen denken ... und wagte es nicht.
Später am Tag klopfte der Magier an ihre Tür und brachte neue Kleidung, Schuhe und sogar ein kleines Feenlicht an einer ledernen Schnur für die Reise. Dankbar tauschte sie ihre alten Sachen gegen eine dunkelgrüne Tunika mit ausgestellten Rockschößen, schwarze Beinlinge und weiche Stiefel, die ihr nur minimal zu groß waren. Dazu gab es einen Gürtel mit Tasche, Geldring und Dolchhalterung, falls sie einmal einen Dolch haben sollte – oder Geld -, und einen Umhang aus weinroter Wolle, wenn es kalt wurde. Obwohl die Sachen schlicht waren, fühlten sie sich gut an. Hel hatte das Gefühl, wieder ein richtiger Mensch zu sein, nachdem sie so lange wie eine Wilde herumgelaufen war. Auch wenn es ein lächerlicher Trost war, gaben die Kleider ihr Sicherheit. Jemand hatte an sie gedacht ...
Dabei kehrten ihre Gedanken zu Nova zurück und ihr Magen verkrampfte sich. Sie hätte sich denken können, dass er nur nach Moia wollte, weil es ihm gerade recht kam. Kaum hatte er seine Magierin erobert, war sie ihm schon lästig. Hel hatte es ja kommen sehen. Aber auf sie hörte natürlich keiner.
Als sie Hunger bekam und zum Abendessen in die Halle ging, sah sie zu ihrer Überraschung nur eine Handvoll Sturmjäger am Tisch. Alle anderen hatten sich spontan zu einem Hungerstreik entschlossen.
Die anwesenden Sturmjäger waren hauptsächlich von der Taube. Wahrscheinlich hatte Nova ihnen schon erzählt, dass sie morgen aufbrechen würden. Auch er saß unter ihnen und sah Hel aus großen, mitleiderregenden Augen an, als sie sich dazusetzte. Wenigstens war er nicht so unverfroren, das Wort an sie zu richten. In reumütiger Schweigsamkeit stocherte er in seinem Gemüse.
Zwei Stunden danach – Hel lag wach auf dem Bett – klopfte es wieder an der Tür. Als sie fragte, wer da sei, trat Nova unaufgefordert ein.
»Unten servieren sie Cremetörtchen. Ich habe eins für dich mitgenommen, aber Gesten der Freundlichkeit verärgern dich ja. Also habe ich dein Törtchen auf dem Weg gegessen.«
»Hau ab.«
Er presste die Lippen aufeinander. »Wir müssen über morgen sprechen. Ach was, nicht nur morgen – die ganze Reise!« Er setzte sich neben sie aufs Bett und atmete tief aus. »Meinst du, es stecken wirklich aufständische Isen dahinter?«
Hel richtete sich auf. »Wie kommst du darauf, dass ich mit dir darüber sprechen werde? Und geh von meinem Bett runter!«
»Mit irgendwem musste du darüber sprechen.«
»Irgendwer, aber nicht du.«
»Mit wem denn sonst?«
»Ach! Du meinst wohl, außer dir hab ich niemanden!«
Er seufzte. »Hel ... ganz abgesehen davon, was ich im Augenblick durchmache, sorge ich mich auch um dich. Ich habe das ernst gemeint, dass meine Freunde auf mich zählen können.«
Sie schnaubte. »So wie deine gute Freundin Aricaa?«
Er rang sich zu einem gequälten Lächeln durch. »Verurteile mich nicht immer, bitte. Du weißt gar nicht, was zwischen Aricaa und mir ist. Ich sitze vor dir als ein Freund, der in Not ist und der dir in deiner Not beistehen will. Bleib nicht ewig beleidigt, nur weil du zu stolz bist.«
Hel verschränkte die Arme, prüfte seinen Blick, doch sie fand nichts Falsches darin. »Ich bin nicht beleidigt. Ich bin entsetzt.«
Er nickte. »Gut. Trotzdem können wir uns besprechen. Den Magiern würde ich nicht unbedingt trauen, ehrlich gesagt, und der Mannschaft habe ich nur erzählt, dass wir Meister Olowain zu einer Versammlung nach Moia bringen. Egal was noch passiert, wir beide müssen zusammenhalten. Verstehst du?«
Sie musterte ihn skeptisch. Wie konnte ein Mensch so viele verschiedene Gesichter haben, dachte sie. Der Junge, der ihr jetzt mit müden Augen und hängenden Schultern gegenübersaß, schien gar nichts gemein zu haben mit dem Aufschneider Nova, nichts mit dem lächerlichen Liebling der Magierin, nichts mit dem immer lauten, immer im Mittelpunkt stehenden Possenreißer, der so lange alles gewesen war, was sie in ihm gesehen hatte. Aber wer wusste schon, wann er sich wieder verwandelte. Was nützte es ihr, wenn sie ihm in einem Moment vertrauen konnte und im nächsten nicht?
Sie atmete tief durch, spürte den Stolz in sich, der laut protestierte ... und besiegte ihn. Als sie die Arme senkte, fühlte es sich dennoch nicht an, als würde sie nachgeben. Sie sahen sich an und ihre Blicke schlossen Frieden. »Also«, sagte sie. »Unten servieren sie Cremetörtchen?«
Moia
In dieser Nacht redeten Hel und Nova lange. Was die Magier gesagt hatten, aber vor allem das, was sie vermutlich noch verschwiegen, beschäftigte sie bis in die frühen Morgenstunden. Wer war die Rebellenanführerin der Isen, der man solche magischen Fähigkeiten zutraute? Woher wussten die Magier überhaupt von ihr? Und wer erwartete sie in Moia? Was geschah, wenn sie ihren Feind ausfindig machten? All das war unklar, und darüber zu sprechen, nahm eine große Last von Hel. Ihr war, als würden sie Stück für Stück das große Gewirr aus Angst und Unsicherheit durchbrechen, das sich um sie geschlossen hatte.