Eine Gestalt kam die Treppe an Deck hoch. Sie war in einen dunklen Umhang gehüllt, doch vor dem Magier blieb sie stehen, schüttelte die Kapuze ab und verneigte sich. Es war eine Zwergin.
Ihr pechschwarzes Haar war zu zwei großen krausen Knoten aufgesteckt, sodass man das herzförmige Gesicht sehen konnte. Eine spitze, leicht schiefe Nase führte von den buschigen Augenbrauen hinab zu einem ebenfalls schiefen Mund, der zu einem spöttischen Lächeln verzogen war. Von den Stiefeln bis zum Schaltuch war sie ganz in Schwarz gekleidet und auch die beiden Stilette an ihrem Gürtel steckten in schwarzen Scheiden. »Seid gegrüßt, Meister Olowain. Ich habe mir erlaubt, Eure Leibwache auf die Probe zu stellen, und mich an Bord geschlichen. Ob mein Misstrauen berechtigt war, liegt nun in Eurem Ermessen.«
Arill machte einen Schritt vor. »Wann seid Ihr an Bord gekommen?«, knurrte er.
Die Zwergin warf ihm einen Seitenblick zu. »Ich war lange vor Euch hier.«
Der Söldner mahlte mit den Zähnen, dass man die Kieferknochen vortreten sah.
»Ärgert Euch nicht, Arill«, lenkte Olowain ein. »Ihr seid nicht der erste und gewiss nicht der letzte Leibwächter, den diese Dame erfolgreich getäuscht hat. Wenn ich vorstellen darf: Vor Euch steht die letzte Gefährtin in unserem Bunde, Harlem.«
Der Söldner machte große Augen. »Die Attentäterin Harlem?«
Die Zwergin neigte den Kopf. »Ich freue mich, den Auftrag anzunehmen. Möge uns allen gelingen, was uns auf dieser Reise aufgegeben ist.«
Arill nickte grimmig. Dass ihm die zwergische Attentäterin bekannt war, milderte die Demütigung offenbar ein wenig, trotzdem ahnte Hel, dass die beiden nicht so schnell Freundschaft schließen würden.
Dann wandte Harlem sich Hel zu. Der Blick der Zwergin war so durchdringend, als wären sie ganz allein, als existierte niemand um sie her. »Dich kenne ich nicht. Wer bist du?«
Zum Glück antwortete Olowain für sie: »Das ist Hel, die Sturmjägerin, die den Angriff überlebt hat. Sie wird helfen, unseren Gegner aufzuspüren.«
Fast glaubte Hel dem Magier. Harlem nickte auch ihr zu. »Dann werden wir beide eng zusammenarbeiten, Hel.«
»So?«, stammelte sie dümmlich. »Mein Erfolg hängt von deinem ab«, erklärte Harlem geduldig. Hel war nicht sicher, ob die Zwergin sie anlächelte oder ob es nur an ihrem schiefen Mund lag. Sie begriff, dass die Attentäterin hier war, um jemanden umzubringen. Jemanden, den Hel für sie finden sollte. Die Erkenntnis jagte ihr einen Schauder über den Rücken.
Die Taube war startklar. Die Trolle begannen, die Kurbel zu drehen, Kapitän Nord öffnete die Rohre. Das Schiff stieg in die Höhe. Erst langsam, dann immer rascher blieb die Erde unter ihnen zurück und das weite Blau des Himmels nahm sie in sich auf.
Die Träume des Schakals
Es war ein Tag, ganz gelb und grobkörnig. Die Farbe wurde immer intensiver, je mehr Zeit verging, so als versinke die Erinnerung mit den Jahren in einem zähen Sud aus Licht. Das Wasser hatte in hundert salzigen Nuancen geschillert, kristallklar bei den Uferbänken, gelblich grün weiter draußen. Viele Sonnen funkelten, eine im Himmel und ihre tausend falschen Zwillinge auf dem kräuseligen Meer.
Er hatte darin gestanden, im Meer. Das Wasser wie kühle Griffe an den Knöcheln gespürt. Auf seinen Speer war eine Krabbe gespießt, und sie bewegte noch die Beine. Der Panzer glänzte fleckig gelb, nicht so rot wie die, die seine Mutter abends aus dem kochenden Kessel holte, und er wunderte sich darüber, dass Farben einfach kommen und verschwinden konnten.
Er hatte dagestanden mit dem sterbenden Tier, seiner Beute, im gelben Sand im gläsernen Wasser. Hatte mit zusammengekniffenen Augen zu den Booten gesehen, die angerudert kamen. Es waren nicht die Fischerboote der Väter. Viel größer und viel mehr an der Zahl. Ob er seine Mutter rufen sollte? Aber dann musste er zurücklaufen, den Hügel hinauf, durch das hohe, trockene Gras, unter den murmelnden Pinien hindurch, und dann konnte er die Boote nicht beobachten. Gleich hatten die Wellen sie angespült.
Männer waren darauf. Keine bleichhäutigen Menschen vom Festland, das viele Stunden weit von den Inseln entfernt lag. Manchmal kamen die Bleichen und wollten magische Wunderwerke tauschen, doch sie hatten nur Krabben und Fisch, und die Bleichen verschwanden enttäuscht wieder mit ihrem Zauberwerk. Aber obwohl diese Männer Isen waren, kannte er sie nicht, hatte sie nie zuvor gesehen. Sie sprangen von den Booten und liefen durch das Wasser und Säbel blitzten in der Sonne. Wie sehr sie blitzten! Alles wurde weiß, das Licht schnitt ihm schmerzhaft durch die Augen ... irgendetwas vergessen ...
Wilde schwarze Wellen und ein Boot, Hände, die ihn packten, und heulende Kinder ... und die ganze Zeit fragte er sich ... fragte sich, wohin sie gebracht wurden, er und die anderen Kinder, und ... wieso alle Eltern geblutet hatten, aber ... die Krabbe, die die Beine noch bewegte ... was war aus der Krabbe geworden?
Der Regen trommelte auf die Holzbretter und goss überall durch die Ritzen. Das Stroh war feucht und klebte Karat auf der Haut. Er war wach, als es dämmerte.
Eine Weile blieb er noch liegen, die Augen halb geschlossen, und wartete auf die innere Stimme, die ihn zum Aufstehen drängte. Seine Gedanken hingen im Nebel der Nacht, seine Gefühle aber waren bei Sybahl. Ja, er fühlte sie. Ihr festes, dickes Haar unter den Fingerspitzen, ihre warme Kniekehle an seinem Knie. Ihren Blick auf seinem Gesicht. Was trieb ihn bloß weg von der Höhle der Wölfin, weg vom einzigen Fleck auf der Welt, der ihm erträglich war?
Er hörte ihre Stimme noch, ihr letztes Gespräch, bevor er gegangen war. Damals, vor so vielen Tagen, in dem stillsten Zimmer von ganz Har’punaptra ...
»Ein Dämon?«
»Ja. Sie sagen, er hat die Flüsse unter der Stadt geweckt und mehrere Schiffe der Liga angegriffen. Wohin er kommt, zerstört und mordet er. Ganze Dörfer wurden vernichtet.«
»Wie?«
»Es muss ein Magier sein. Natürlich behaupten sie, es sei einer von uns, ein Ise.«
»Pah ... wenn Mutter Meer die Macht besäße, Dörfer auszulöschen und einen toten Fluss zum Leben zu erwecken, dann würde Aradon bereits in Trümmern liegen. Willst du den Dämon suchen?«
»Das Kopfgeld ist hoch. Auch die Belohnung für Informationen.«
»Sei vorsichtig ... Karat ... wirst du zurückkommen?«
»Zu dir, Sybahl? Sybahl ... zu dir.«
Karat schloss die Augen, atmete tief ein und roch für einen Moment statt Stroh und Tieren den Duft ihrer Pfeife. Dann richtete er sich auf, war zurück in der Gegenwart. Sein Araidann-Schwert, das er beim Schlaf in der Hand gehalten hatte, schob er in die lederne Scheide zurück und schnürte sie sich auf den Rücken. Dann band er die vorderen Haare zurück und schlüpfte in seine Stiefel. Das dicke Keilpferdleder war über Nacht fast getrocknet. Gähnend trat er aus der Scheune.
Ein paar Dorfbewohner waren schon wach. Das junge Mädchen, die Tochter der Leute, schöpfte Wasser aus dem Holzfass, als Karat vorbeikam. Vor Schreck ließ sie den Eimer fallen. Karat hob ihn auf und gab ihn ihr zurück. Sie senkte scheu den Kopf, wie gestern Abend, als sie ihm Brot gebracht hatte. Die Menschen hier waren einfach, aber sie verstanden die Sprache der Welt: Sie hatten Karat kommen sehen, das Araidann auf dem Rücken, den Tod im Blick, und gegeben, was sie hatten. Er hätte mehr verlangen können als ein feuchtes Lager und einen Brotkanten. Aber er war kein Räuber.
Als Karat das Tal verließ, wurde der Regen schwächer. Nebel stieg und schluckte die Hütten. Es waren viele Tage vergangen, seit Karat Har’punaptra verlassen hatte. Die Hochländer, wo sich dünn begrünte Berge und Felsen bis zum Horizont streckten, lagen bereits hinter ihm. Seit gestern war er in den Regen geraten und nun schimmerten durch blauen Dunst die ersten Bäume.
Wälder. Finster, zottelig wie Bärenfell, voller Augen. Karat fand die Landschaft auf ihre ganz eigene Art beklemmend. Die Einsamkeit, die einen in der Wüste fraß, kam hier schleichend, erwürgte mit klammen Fingern. Er gab acht, bei dem Nebel nicht die Straße zu verlieren. Er trug kein Feenlicht bei sich und abseits der gesicherten Wege mochte das Land lebendig sein.