Der Dämon war nicht den Adern gefolgt, soweit Karat wusste. Er hatte fünf Schiffe der Sturmjäger zerstört, alle im Mittland bis auf eins – das war in der Wüste abgestürzt. Als Karat davon gehört hatte, war ihm die Windige Stadt eingefallen ... und vielleicht war das der Moment gewesen, in dem er beschlossen hatte, den Dämon zu suchen. Ein Gefühl sagte ihm, dass es richtig war, diesen Kopf zu jagen. Auch wenn manche behaupteten, dass er gar nicht existierte. Was Karat in der Windigen Stadt erlebt hatte, schien auf diesen unbekannten Feind zu passen, der mordend durch die Welt zog. Karat glaubte nicht an Schicksal, doch er hatte gewusst, dass dies sein Auftrag war.
Am Abend erreichte Karat eine kleine Stadt, wie es entlang der Adern zahlreiche gab. Die von Höhlen durchlöcherten Felsvorsprünge am Waldrand wurden von Zwergen bewohnt, doch auch Menschenhäuser drängten sich an die tropfenden Klippen. Es war keine Seltenheit, dass sich Menschen niederließen, wo Zwerge bereits Jahrhunderte vorher entdeckt hatten, dass das Lebendige Land ruhig war.
Karat kehrte in der einzigen Schenke des Städtchens ein, in deren Betten er passte. Der schweigsame Wirt schürte das Feuer in der Stube, damit seine Kleider rascher trockneten, und die Wirtin brachte heiße Suppe. Als die Frau trotz des warnenden Blicks ihres Mannes fragte, was ihn hertreibe, antwortete er mit einer Gegenfrage: »Was wisst ihr von einem Dämon? Er soll ein Dorf zerstört haben, nicht weit von hier.«
Der Wirt hängte den Schürhaken zurück und sah seine Frau eindringlich an, ehe er in der Küche verschwand. Die Wirtin wischte sich die Hände an der Schürze ab. »Es ist wahr ... eine halbe Tagesreise westlich von hier, in den Bergen, lag das Dorf. Der Straßenmann, der dort oft vorbeikommt und die Feenlichter auswechselt, hat es mir erzählt. Er war vor drei Tagen da, aber das Dorf war weg. Nur noch ein paar Knochen und verbrannte Erde, selbst die Bäume und Pflanzen ringsum waren verdorrt.« Sie presste die Lippen zusammen. Dann setzte sie sich hastig auf den Stuhl neben ihm und murmelte: »Ich glaube nicht, dass es Isen waren. Manche behaupten das. Aber was auch immer durch die Wälder streift, es ist nicht aus Fleisch und Blut.«
Karat nickte ernst, doch innerlich war er überrascht über die Ehrlichkeit der Frau. Und dass sie keine Feindschaft gegen Isen zu hegen schien. Vielleicht waren die Menschen hier draußen wirklich reineren Herzens als in den Städten, auf jeden Fall waren sie naiver.
Die Wirtin blieb erwartungsvoll sitzen; offenbar wollte sie nun von ihm etwas hören. Karat trank seine Suppe leer.
»Seid Ihr hinter dem Dämon her?«, fragte sie rundheraus. Karats Blick ließ sie zurückweichen. Er sah förmlich den Wandel in ihren Augen: Die Neugier wich Misstrauen, als würde jemand eine Münze umdrehen.
»Wie komme ich zu dem Dorf, führt die Ader daran vorbei?«
»Ja, Herr. Ihr müsst nur der Straße folgen.« Die Wirtin gab sich einen Ruck und stand auf. »Aber Ihr werdet nicht mehr viel sehen, höchstens einen kahlen Fleck.«
Karat hatte gehört, was er wollte, und erhob sich ebenfalls. »Zeig mir mein Zimmer.«
Träume waren schwarz und weiß und manchmal schrecklich rot.
Er sah die Kinder von den Booten taumeln, das Wasser war viel kälter als in den Lagunen draußen, hier bellten die Wellen dunkle Klippen an. Die Männer mit den Säbeln brachten sie zu Feuern, riesig und rot. Viel mehr Kinder waren da, die er gar nicht kannte. Und in ihren Händen lag scharfes Eisen und ihre Augen leuchteten so kalt.
Kämpfe. Das sagten Stimmen, manchmal im Chor, dann allein. Kämpfe um dein Leben, eins hast du schon verloren. Du oder sie. Du musst ... manchmal töten ...
Du bringst uns Silber, du bringst uns Blut. Oder wir, schwarze Nacht, bringen dich um.
Er kämpfte. Seine Hände voll scharfem Eisen, voll feuchtem Rot. Viel später nannten sie ihn Schakal, denn wer sich ein Leben zurückraubte, bekam einen Namen. Schakal. Ein listiger Dieb, kann durch Wüsten huschen, reißt Kinder in der Dunkelheit.
Am nächsten Tag kam er tatsächlich an dem Dorf vorbei. Verkohlte Holzbretter und die Gerippe von Hütten glänzten wie mit Pech begossen im Regen. Lange betrachtete Karat die Bäume ringsum. Keiner trug ein grünes Blatt, sie waren tot wie in die Erde gesteckte Äste. Mächtige Magie musste hier gewütet haben. Wahrscheinlich war der Dämon einer von den Magiern selbst und hatte den Verstand verloren. Oder es war tatsächlich einem Außenstehenden gelungen, sich das geheime Wissen anzueignen, das in den Türmen Aradons so streng gehütet wurde. Aber konnte ein wahnsinniger Mörder vollbringen, was die geschicktesten Verräter über Jahrhunderte vergeblich versucht hatten? Karat zweifelte daran. Welchen Plan verfolgte der Dämon mit seiner Zerstörung? Seine Spur war zunächst von Norden nach Süden verlaufen, nun schien er in westlicher Richtung unterwegs zu sein. Was war sein Ziel? Wenn er die Macht besaß, Dörfer auszulöschen, wieso griff er keine Städte an, die bedeutsamer waren als ein paar Hütten in der Wildnis?
Diese Überlegungen beschäftigten Karat, als er der Straße nach Westen folgte. Normalerweise waren die Verbrecher, die er jagte, leichter zu durchschauen. Sie hatten ein Gebiet, in dem sie sich bewegten. Außerdem ging es ihnen meistens um Geld. Ja, Karat wurde bewusst, dass er etwas anderes nie in Betracht gezogen hatte. Vielleicht reizte ihn der Dämon deshalb ... wenn ihn etwas anderes trieb als Wahnsinn, Gier und Hunger, dann gab es vielleicht etwas anderes auf der Welt. Etwas, das Karat noch nicht begegnet war.
Mutter Meer kam ihm wieder in den Sinn, das Spukgespenst der Isen. Und wenn es doch kein Spukgespenst war – sondern ein Dämon der Menschen?
Der Gedanke kam Karat nicht zum ersten Mal. Aber während er unter den finsteren, tropfenden Bäumen ging, begleitet nur vom Klirren seines Araidann, war ihm die Vorstellung nicht unangenehm, dass er womöglich gar keinen Kopf jagte. Sondern einen Traum.
Medeah
Das Königreich Moia lag südwestlich von Aradon und erstreckte sich von den tiefen Wäldern des Inlands bis zu den Küsten, wo die bekannte Welt endete. Nur das Lagunenreich der Isen war noch weiter südlich, draußen im Meer. Die Taube folgte zwei Tage lang dem Fluss, der von Aradon fortführte. Hel beobachtete die Sonnenauf- und -untergänge, die sich auf den Wellen brachen, und die Boote, die durch das Lichtband trieben. An die Ufer schmiegten sich Dörfer und ihre Stege, Brücken und Mühlen sahen von oben wie Spielzeug aus. Dann teilten sich die Gewässer des Horrùn und verschwanden in vielen kleinen Ausläufen und Wasserfällen im dunkelgrünen Land. Das Schiff bog nach Westen ab. Bald kam die Ader in Sicht, die von Aradon nach Moia führte; wie eine hellbraune Schnur zog sich die Straße durch das Land, vorbei an Feldern und kleinen Städten. Hel versuchte, sich die Menschen vorzustellen, die dort unten lebten und jetzt zu ihnen aufblicken mochten. Vielleicht wünschte sich der ein oder andere, einmal auf einem Schiff zu fliegen. Sie aber beneidete die, die ein Zuhause hatten. Etwas, das ihnen gehörte und dem sie gehörten. Was nützte es, das ganze weite Land unter sich vorbeiziehen zu sehen, wenn man es nicht berühren konnte?
Dass sie, Meister Olowain, die Söldner und Harlem Gefährten auf einer geheimen Mission waren, machte sich während ihrer Reise nicht bemerkbar. Hel hatte erwartet, dass Olowain sie zusammenbringen würde, doch der Magier selbst blieb so zurückgezogen, als hätte er gar nichts mit ihnen zu tun. Die meiste Zeit verbrachte er in seiner Kabine, die wegen des mysteriösen Silberschranks niemand sonst betreten durfte. Wenn er zum Essen erschien, wirkte er zerstreut und schweigsam, bis man ihn ansprach; manchmal führte eine unschuldige Frage zu einem regelrechten Sturzbach an Fakten und Details, der ein ganzes Abendessen lang andauern konnte. So erkundigte Hel sich einmal der Höflichkeit halber, was Olowains Aufgabe in Aradon sei, woraufhin der Magier fast eine Stunde lang erzählte. Er war ein Hüter der Bibliothek, einer der höchsten Ränge in der Magierschaft, was ihm uneingeschränkten Zugriff auf magisches Wissen verschaffte. Sein Spezialgebiet war magische Geschichte und antike Magie, wie sie bereits in grauen Vorzeiten angewandt worden war, zum Beispiel unter der Herrschaft der Druiden im Alten Reich. Irgendwann war er so weit vom Thema abgekommen, dass Hel schon nicht mehr sicher war, mit welcher Frage sie den Monolog ausgelöst hatte.