»Vor der Zeit der Magierschaft war Magie schließlich keine Wissenschaft, sondern ein finsterer Kult, der nicht das Wohl der Menschen zum Ziel hatte, sondern ihre Unterdrückung durch die Vier Druiden«, rasselte er mit so spröder Stimme herunter, als beschwere er sich über trockenes Brot. »Man stelle sich vor, die Welt war der Willkür von vier abergläubischen Menschen ausgeliefert, die allein über den Schutz des Volkes vor dem Lebendigen Land bestimmten. Wie wirksam dieser Schutz war, kann man sich denken. Irgendwann wütete das Lebendige Land besonders; ganze Gebirge verschoben sich, Felder und Dörfer verschwanden über Nacht und Hungersnöte brachen aus. Da wurde die Sturmjagd entdeckt. Genialität braucht immer ein gewisses Maß an Elend. Die ersten Magier und ihre Anhänger wurden von den Druiden verfolgt, aber Fortschritt kann nicht aufgehalten werden. Könige, die zuvor von den Vier Druiden abhängig waren, wollten bald die Sturmjagd nutzen. Den Anfang machte dabei das Königreich Aradon. Im großen Krieg wurde es wie die meisten Reiche zerstört. Aber wie wir alle wissen, ist der Krieg ja gut ausgegangen. Die Druiden verloren und zogen eine Gebirgskette um ihr verbliebenes Gebiet, damit die Sturmjagd wenigstens nicht in ihre Nähe kommen konnte. Seitdem hat man hier nichts mehr von den Dingen gehört, die jenseits der Kauenden Klippen vor sich gehen; wenn es tatsächlich Menschen gibt, denen eine Flucht aus dem Alten Reich gelungen ist, dann verbergen sie sich und schweigen. Die Herrschaft der Druiden muss bis heute ungebrochen sein, ein sehr beunruhigender Gedanke, finde ich. Es gibt nur sehr alte und ungenaue Überlieferungen, die ich natürlich alle gelesen habe, doch ...«
Hel nickte immer nur. Dabei überlegte sie die ganze Zeit, an welches Tier Olowain sie bloß erinnerte. Auf jeden Fall an ein schläfriges Tier, eine Schildkröte vielleicht, aber dafür war er zu schlaksig und groß. Sie konnte nicht begreifen, wie jemand so ausdauernd über ein Thema erzählen und dabei so leidenschaftslos klingen konnte.
Ab und zu sprach Olowain sie auch auf ihre zweite Sicht an, doch selbst da war es bald er, der erzählte.
Arill und seine Krieger blieben unter sich. Hel hörte sie kaum sprechen. Nur durch Zufall bekam sie einmal einen Befehl Arills mit und erfuhr so, dass der blonde Söldner Caiden hieß und sein dunkelhaariger Gefährte Berano – der Name der weiblichen Söldnerin blieb ein Rätsel. Wenn sie an Deck waren, schliffen sie ihre Klingen oder übten sich in Zwei- und Gruppenkämpfen, bei denen Arme, Beine und Stäbe so schnell durcheinanderwirbelten, dass man kaum folgen konnte. Trotzdem spürte Hel, dass die Söldner dabei insgeheim die anderen an Bord beobachteten. So versunken sie in ihr Training auch schienen, mehrmals fühlte Hel ihre Blicke über das Deck huschen, scharf wie Klingen. Sie waren für die Sicherheit der Gefährten zuständig, darum misstrauten sie jedem – vielleicht sogar den Gefährten selbst.
Harlem schien sich jedoch nicht daran zu stören, dass Arill ihr düster nachblickte, wohin sie auch ging. Meistens döste sie in ihrer magischen Hängematte, die entfaltet zwei Fuß über dem Boden schwebte. Ein zwergisches Buch lag dabei oft über ihren Augen, und hätte Hel sie nicht sehr überzeugend schnarchen gehört, hätte sie vermutet, dass die Attentäterin ihre Mitreisenden genauso heimlich beobachtete wie die Söldner.
Eines Abends, als Hel gerade kochte, betrat die Zwergin die Küche. »Wie sieht es aus, das Licht, das nur du sehen kannst?«
Hel erschrak, als sie die kratzige Stimme so dicht hinter sich vernahm, und ließ die ganze Zwiebel in die Suppe fallen. Dann standen sie sich gegenüber, allein im dämmrigen Raum. Die Zwergin sah sie durchdringend an und kaute dabei auf einer getrockneten Knollenfrucht. Sie hatte ihren eigenen Proviant mitgenommen und rührte nichts von dem Essen der anderen an, ob das nun eine übertriebene Vorsichtsmaßnahme war oder einfach Geschmackssache.
»Äh, wie das Licht aussieht?« Hel versuchte, ihre Nervosität zu überspielen, stützte einen Arm in die Seite und senkte ihn wieder. Sie nahm einen Löffel und fischte nach der Zwiebel. »Nun, es ist so eine Art Aura, die alles umgibt, was lebendig ist. Sie sieht so aus wie das Licht von Geistern. Geister sind ja auch lebendig. Nur dass sich das Licht von Wesen aus Fleisch und Blut schneller wandeln kann.«
»Was meinst du?«
»Nun ... wenn jemand verletzt ist oder krank, ist sein Licht schwächer. Auch wenn jemand wütend ist oder glücklich, ändert sich manchmal sein Licht.«
»Also kannst du Gefühle sehen. Kannst du Gedanken lesen?« Es klang wie eine Feststellung. Hel sah sie an.
»Nein, das nicht. Gefühle sehen kann doch eigentlich jeder, schließlich ist es nicht schwer zu erkennen, ob jemand wütend ist oder traurig oder sonst was.«
»Manchmal schon.« Die Zwergin musterte sie mit ihrem schiefen Lächeln und schob sich den letzten Bissen ihrer schrumpeligen Knolle in den Mund. »Dein Freund der Sturmjäger«, fuhr Harlem fort, »er weiß Bescheid, nicht?«
Hel öffnete den Mund, wartete aber vergebens darauf, dass ihr eine Antwort einfiel. Die Zwergin nickte dennoch. Dann drehte sie sich um und ging. In der Tür blieb sie noch einmal stehen: Ihr Blick gab Hel das Gefühl, ein Geheimnis mit ihr zu teilen, in das sie trotzdem nicht eingeweiht war. »Übrigens hatten wir Zwerge einst, bevor wir in eure Städte gezogen sind, auch eine besondere Sicht. Manche von uns können immer noch sehr gut in der Dunkelheit sehen.« Lächelnd ließ sie Hel in der Küche stehen.
Als sie Nova später von der Begegnung erzählte, wurde er sehr unruhig. Sie saßen im Bug des Schiffs, nur Sternenhimmel und Nacht um sich, und der Fahrtwind brauste ihnen durchs Haar. Niemand konnte sie belauschen.
»Damit meint Harlem doch, dass ich in euren Auftrag eingeweiht bin, oder?«, stammelte Nova. Die Vorstellung, der Attentäterin ein Dorn im Auge zu sein, war wirklich nicht angenehm – Hel konnte seine Sorge nachvollziehen.
»Ich wüsste nicht, was sie sonst andeuten wollte«, sagte sie. »Aber so, wie ich sie einschätze, ist ihr egal, ob du davon weißt oder nicht. Solange du ihr nicht im Weg stehst – und das tust du ja nicht. Dass du vom Zweck unserer Reise weißt, wird sie nicht daran hindern, ihren Mord zu begehen.« Hel hielt inne. Dann schüttelte sie den Kopf. »Wie kann man nur jemanden töten, den man gar nicht kennt, von dem man nichts weiß?«
Nova nickte langsam. »Aber es ist ja ein Dämon – oder zumindest ein Verbrecher, den wir jagen. Harlem weiß, was er getan hat und noch tun wird, wenn man ihn nicht aufhält.«
Hel schlang die Arme um ihre Knie und wiegte sich. Obwohl der Unbekannte alle Menschen umgebracht hatte, die ihr nahegestanden hatten, war sie nicht sicher, ob sie ihn hätte töten können. Sie wusste einfach nichts über die Gründe, die ihn dazu getrieben hatten. Sie konnte niemanden hassen, den sie nicht kannte.
Hel schloss die Augen. Sosehr sie sich nach Antworten sehnte, so sehr fürchtete sie sich auch davor.
»Nova?«, rief jemand. Als sie sich umdrehten, entdeckten sie Kapitän Nord, der mit einer Leuchtkugel auf sie zukam. Er war barfuß und nur mit einer Hose bekleidet. In den Armen hielt er ein prachtvoll besticktes blaues Wams. »Lasst euch nicht stören, ihr zwei. Ich wollte dich nur fragen, ob du Nähzeug hast. Ich muss Löcher stopfen.«