Im Näherkommen sahen sie die Gestalten bei den Feuern. Die meisten lagen auf der Erde und schienen zu schlafen; andere saßen im Flammenschein zusammen. Hier und da huschte jemand von einer Gruppe zur anderen, um Wasser, Brot und gemurmelte Nachrichten zu teilen. Erst auf den zweiten Blick stellte Hel fest, dass es ausschließlich Isen waren.
Vor dem Stadttor tummelten sich Wachen im unruhigen Fackelschein. Auf ihren Wämsern prangten rote Farbstreifen als Ersatz für Uniformen.
»Zieht eure Kapuzen auf«, mahnte Olowain. Hel gehorchte, auch wenn sie nicht begriff, wozu das dienen sollte. Im Gehen strich Olowain über seinen Stab und plötzlich war da anstelle des glänzenden Silbers nur noch ein Stecken aus knotigem dunklen Holz.
Als die Wachen sie bemerkten, stellten sie sich ihnen in den Weg. Olowain überreichte einem von ihnen wortlos einen kleinen samtenen Beutel. Hel hörte Münzen klirren. Die Sprache, die jeder verstand. Als Magier konnte Olowain zwar überall Einlass verlangen, doch ihre Anwesenheit in der Stadt geheim zu halten, war wichtiger. Hel fragte sich, wie viel in dem Beutel war. Gerade genug wahrscheinlich, um keine Fragen zu stellen.
Plötzlich brach Lärm bei den Feuern aus. Schreie und Waffenklirren wogten heran und ein ganzes Heer von rot gekennzeichneten Männern stürmte durch das Tor nach draußen. Die Wache ließ den Geldbeutel im Wams verschwinden und scheuchte sie aus dem Weg.
Hastig lief Hel hinter Olowain her. Straßen nahmen sie auf, schwarz und eng wie Tunnel.
Kelda übernahm die Führung. Einmal holte er die Leuchtkugel aus seinem Bündel und machte Licht. Hel sah feuchte Wände, aufgebrochenes Straßenpflaster und Häuser, die sich scheinbar endlos in die Finsternis fortsetzten. Kelda fand seine Orientierung wieder, das Licht erlosch und sie bogen nach links ab. In der Nähe erklangen aufgeregte Stimmen und Schritte. Dann wieder Stille. Ein einsames Jaulen versank darin wie in einem Pelz. Längst war der Himmel grau, doch in der Stadt klammerte die Nacht sich an den Hausmauern fest und überlebte die Dämmerung.
Bald erschien eine Öllaterne, die so schmutzig war, dass sie kaum das Schild unter sich erhellte. Hel konnte den Namen darauf nicht entziffern, die weiße Farbe war von vielen Regentagen längst zu Tränen verwischt. Ein winziges Gässchen lag daneben. Kelda führte sie hinein, dann eine glitschige Treppe empor zu einer Tür, durch die man fast nur seitlich passte.
Sie betraten einen fast völlig dunklen Raum mit fettigen Holztischen und einer Feuerstelle, um die sich Kessel, Geschirr und Körbe drängten, als wollten sie sich an den müden Flammen wärmen. Dazwischen saß ein uralter Ise und schnarchte. Seine Füße ruhten auf einem Eimer voll halb geschälter Kartoffeln; einer seiner Pantoffeln war hineingerutscht. Hel fragte sich, wie er trotz des Lärms, den sie beim Reinkommen gemacht hatten, noch schlafen konnte. Noch dazu in dieser Luft, die vor verdunstetem Schnaps und Essensdampf schwer auf den Lungen lag.
Kelda hob eine Glocke auf, die neben der Tür zu Boden gefallen war, und klingelte. Träge öffnete der Alte erst das eine, dann das andere Auge. Als er die vielen Gestalten erkannte, erschrak er.
»Guten Morgen. Wir sind zu neunt und suchen eine Unterkunft«, sagte Kelda in seinem leisen Ton und legte die Glocke auf den Boden zurück.
Der Alte schnellte hoch, wobei er stehend nicht viel größer war als sitzend, denn sein Rücken krümmte sich wie eine Wurzel.
»Die Zimmer sind nicht vorbereitet«, krächzte er und hustete. Nachdem er erschreckend nah an den Kartoffeln vorbeigespuckt hatte, wurde seine Stimme kräftiger. »Es gibt drei Zimmer. Die Nacht kostet einen Schilling pro Kopf, Abendessen und Wasser zum Waschen sind umsonst.«
Kelda nickte und sah zu Olowain hinüber. Der Magier legte das Geld auf einen der Tische.
Sich die Augen reibend, schlurfte der Wirt heran, um die Münzen zu zählen. Er brauchte unendlich lange. Schließlich ließ er das Geld in seinem Kittel verschwinden und deutete zu einer wackeligen Stiege. »Hier entlang, die Herrschaften. Ich zeige Euch den Weg.«
Hel erwartete fast, dass der Greis auf den Stufen ausrutschte und Olowain auf den Kopf fiel. Doch seine Langsamkeit verhinderte einen Unfall. Oben fanden sie sich in einem Gang mit vier Türen wieder, von denen der Alte drei aufsperrte, sobald er den Schlüssel in seinen Taschen gefunden hatte. Die Zimmer waren alle gleich ausgestattet. Vier Strohpritschen waren an die Wände geschoben und ein rundes Fenster eröffnete die Sicht auf Hausdächer und einen Wolkenhimmel. Der Wirt stopfte hier und da Stroh in die Matratzen zurück. Der Geruch von Mäusedreck und Gemüse hing in den Räumen. Hel konnte nicht an sich halten; sie marschierte auf das Fenster zu und zog es auf.
Der alte Ise blieb noch einmal stehen, ehe er nach unten ging. »Wollen die Herrschaften jetzt etwas essen?«
»Nein«, erwiderte Hel, bevor jemand anderes auf dumme Gedanken kommen konnte. Aber ihre Gefährten schienen ihren Appetit wie Hel beim Betreten des Hauses draußen gelassen zu haben.
»Wir wollen nur schlafen«, sagte Kelda. Der Wirt nickte und machte sich auf den Weg nach unten. Hel bot an, ihm zu helfen, was der Alte dankbar annahm.
Nach einem langsamen Abstieg und einer hastigen Rückkehr nach oben stellte Hel fest, dass sich die Gefährten bereits in den Zimmern verteilt hatten. Sie bezog das erstbeste Bett neben Arill und Olowain. Erschöpft wickelte sie sich in ihren Umhang und ließ sich, als sie ganz darin eingehüllt war, auf die fleckige Matratze sinken. Nebenan hörte sie Harlem schnarchen. Sie schloss die Augen. Müdigkeit wogte über sie hinweg.
Dann hörte sie Schritte im Flur. Schwerfällig kämpfte sie sich aus dem Halbschlaf zurück. Weil die Tür direkt neben ihr war, öffnete sie sie einen Spalt und lugte hinaus.
Kelda wollte gerade die Stiege hinunterklettern, als er sie bemerkte. Überrascht schob er sich die Kapuze aus dem Gesicht.
»Wo gehst du hin?«, fragte Hel verwundert.
»Ich werde mich in der Stadt umhören«, flüsterte der Ise zurück. »Schlaf ruhig. Es tut mir leid, dass ich euch an keinen angenehmeren Ort bringen konnte. Aber hier wird niemand auf uns aufmerksam.«
Hel nickte. »Dann ... pass auf dich auf!«
Für einen Augenblick glaubte Hel ihm Verwunderung anzusehen. Dann war ihm die Kapuze wieder ins Gesicht gerutscht und er verschwand auf der Stiege.
Sie schloss die Tür. Zwei Sekunden später war sie eingeschlafen.
Zwischenzeit
Das KIND war nur noch selten da, und meistens bemerkte ES seine eigene Anwesenheit nicht.
ES ging seit Tagen, ohne geschlafen zu haben. Aber was waren schon Tage, was Schlaf? ES kannte keine Erschöpfung, denn das dunkle Herz schlug in IHM und zog Leben an. Leben, kochendes Blut der Erde. Solange ES das dunkle Herz in sich trug, musste es nicht ruhen, konnte es nicht ruhen.
Dörfer lagen auf seinem Weg. Menschen kamen IHM entgegen. ES nahm ihnen allen das Licht. Manchmal wunderte ES sich, wenn sie ES mit ihren entsetzten Blicken anstarrten. Dass ES noch da war, sichtbar für die Verfluchten, war eine seltsame Erinnerung an den zerbrechlichen Körper, in dem ES steckte. Sah ES wirklich aus wie die kleinen Gestalten, deren Licht so leicht zu rauben war? Sah ES wirklich so aus?
Dann hörte ES auf, sich zu wundern. Der Teil, der nachdachte und Blicke wahrnahm, fiel wie ein welkes Blatt ab, versank in sumpfigem Boden. Das war gut so. ES wurde nicht mehr gebraucht, das dunkle Herz war wichtiger. War mächtiger.
Spur des Todes
Karat stand auf einer felsigen Anhöhe und beobachtete, wie die Flammen im Dorf schrumpften. Die Bäume ringsum waren unnatürlich grau. Selbst die, die nicht verbrannt waren, sahen aus wie verkohlte Strohhalme. Niemand versuchte, die Brände zu löschen. Alle Dorfbewohner waren längst tot.