Karat stieg die Felsen hinab. Inzwischen hatte er diese Szene oft genug gesehen, um zu wissen, dass es ungefährlich war, die Opferstellen zu betreten. Opferstellen, er war zu dem Schluss gekommen, dass es nichts anderes sein konnte. Über vier Dörfer war er dem Dämon schon gefolgt. Vier Dörfer ohne einen Überlebenden. Dass zwei niedergebrannt waren, schien dabei gar nicht wichtig. Welche Macht auch immer so gewissenhaft den Tod brachte, kippte nur beiläufig hier und da eine Öllampe um. Es ging nur um das Auslöschen jeglichen Lebens. Die vollkommene Reinigung, und dazu war Feuer nicht unbedingt nötig.
Er umrundete die Hütten, neugierig wie ein Kind, das einen toten Vogel am Wegrand findet. Die Leere war makellos. Das Dorf war ein riesiger Altar. Wenn der Feldzug des Dämons einen Sinn hatte, dann diesen: Er erbrachte dem Tod Opfergaben. Er huldigte dem Nichts.
Mit ruhigem Blick nahm Karat alles in sich auf. Er betrachtete das seltsam farblose Moos und die Obstbäume, an denen Früchte wie aus gepresster Asche hingen, und war fasziniert. Nie hatte etwas sein Interesse so geweckt wie die Magie, die das alles bewirkte. Besäße die Magierschaft solches Wissen, gäbe es längst keine Könige mehr. Wer über derartige Macht verfügte, musste sich nicht um Abkommen bemühen und Frieden heucheln. Nein, der Dämon besaß nie da gewesene Kräfte. Die Magierschaft war nicht hinter ihm her, sondern hinter seinen Kräften. Sie wollte sie selbst besitzen.
Karat sah die Spur, die der Dämon hinterlassen hatte: Ein Pfad verdorrter Gräser verlor sich schüchtern im Wald wie die Haarlocke eines Mädchens. Karat ging ihm nach. Nicht zum ersten Mal malte er sich aus, wie er dem Dämon begegnen würde. Er hatte längst beschlossen, dass er nicht gleich versuchen würde, ihn zu töten – das wäre töricht. Stattdessen wollte er ihn beobachten, so lange er konnte. Seine Magie ergründen. Und wenn ihm das gelang ... wen interessierte dann noch das Kopfgeld? Er würde sich die Herrschaft über die Welt nicht für einen Spottpreis von der Magierschaft abkaufen lassen.
Karat ging neben der Spur her, und aus Respekt setzte er die Füße nicht auf diesen kleinen Faden Nichts, der auf der ganzen Welt einzigartig war.
Die Bäume öffneten sich und dunkelgrüne sumpfige Auen erschienen. Die Gebirge waren nicht zu sehen, zerrissene Wolken hingen davor. Die Spur des Dämons endete abrupt.
Einen Moment blieb Karat stehen. Schon öfter hatte der Dämon ihn so ratlos zurückgelassen. Einmal hatte es ihn fast zwei Tage gekostet, bis er endlich eine Ader wiederfand und auf ein Dorf stieß, wo der Dämon ihm den Tod hinterlassen hatte.
Karat überlegte, ob er zur Ader zurückkehren oder das Risiko eingehen und quer durch das Lebendige Land wandern sollte. Zwar trug er seinen mit Magie gestärkten Brustpanzer, doch wirklich schützen konnte der ihn nicht, wenn irgendwo Lirium ausbrach. Plötzlich erspähte er etwas zwischen den Hügeln. Es sah fast wie Felsbrocken aus, aber es waren keine. Sein Araidann gezückt, stapfte er durch das dicht wuchernde Gras. Die Erde schmatzte unter seinen Stiefeln. Sie war hier so fruchtbar, dass es Karat beinahe ekelte. Im Näherkommen bestätigte sich sein Verdacht: Es waren tatsächlich keine Felsen, sondern Schafe.
Tote Schafe.
Sie lagen ganz friedlich in der Wiese. Man hätte meinen können, sie schliefen, wären nicht hier und da ein verdrehter Kopf oder ein Bein gewesen, das in einem unnatürlichen Winkel abstand. Zwischen den Tieren entdeckte Karat auch eine junge Frau. Sie hatte die Arme weit von sich gestreckt und starrte mit blanken Augen in den Himmel. Sie waren fast völlig grau, als hätte ihr jemand Metallsplitter eingesetzt. Ein Feenlicht hing an einer Kette um ihren Hals; der Stein leuchtete schwach, war also ganz mit Lirium gefüllt. Die Magie des Dämons. Karat fragte sich, wie groß ein Feenlicht sein müsste, um seinen Angriff abzuwehren. Wahrscheinlich gab es so ein großes gar nicht, wenn er Schiffe zum Absturz bringen konnte, deren Feenlichter immerhin ganze Liriumstürme aufsaugen konnten.
Ein paar Schritte weiter lag noch ein Hirte im Gras. Offenbar hatte der Dämon ihn auf der Flucht erwischt; der Mann hatte einen seiner Schuhe verloren und war aufs Gesicht gefallen. Sonst war er unverletzt. Karat spürte so heftige Faszination, dass er selbst erschrak; als müsste er sich etwas beweisen, stocherte er mit dem Schwert nach dem Toten, sodass er auf den Rücken rollte. Es war eine ganz gewöhnliche Leiche, egal wie er gestorben war. Karat wandte sich ab.
Der Dämon war vor Kurzem hier gewesen. Er konnte nicht weit sein. Ein kühler Wind jagte über die Wiesen und ließ Karats Haar vor seinen Augen tanzen. Er setzte sich in Bewegung.
Als die Nacht anbrach, hatte er weder ein neues Zeichen vom Dämon noch die sichere Straße gefunden. Er ging, bis es zu dunkel war, um etwas zu erkennen. Wie blind kletterte er auf einen Felsen, der sich aus dem Boden hob, und verkroch sich unter seinem Mantel. Meilenweit rasselte der Wind im Gras. Karat lag mit offenen Augen da, ohne etwas zu sehen. Unsichtbare Wolken am Himmel verbargen Mond und Sterne. Er musste daran denken, dass das Lebendige Land gefährlich war ohne den Schutz von Feenlichtern. Wirklich gefährlich. Und das Rauschen konnte genauso gut nicht der Wind sein, sondern das Land, das sich bewegte ... dieses Rauschen ... es war vielleicht ...
Meer. So lautes Tosen, als wollten die Wellen die Küste fressen. Doch sie bissen nur zu, gruben ihre weißen Schaumzähne in die Klippen und wichen dann zurück.
Die Männer mit den bleichen Gesichtern ritten auf Pferden, die Metall im Maul hatten und Blut in den Augen. Ihre Hufe waren Donner. Die Kinder wurden zusammengescheucht, eine Horde aus möglichen Feinden, die einander nicht trauen durften. Es war schon geschehen, dass sie einen in ihrer Mitte hinrichteten. Wer am schnellsten zustach, bekam ein anerkennendes Lächeln, wer zu langsam war, kam gleich als Nächstes dran. Er bemühte sich, angelächelt zu werden. Er hatte Angst vor dem Sterben, so schreckliche, schreckliche Angst. Sein Körper war ein Muskel der Panik, immer in Bereitschaft. Lieber sie als er, sagten die Männer. Lieber sie als er. Das ergab Sinn.
Münzen tauschten Hände. Kinder tauschten Hände. Sie folgten den bleichen Männern auf den Pferden, liefen Stunden und Nächte und Tage. Peitschenknallen immer hinter ihnen. Die Pferde heulten wie Meerwogen unter den Schlägen, die Kinder stießen schrille Laute aus, sie waren brechende Steine. Er sah Schaum und Blut. Schaum und Silber und Blut. Mit den bleichen Männern raubten sie, fackelten Häuser ab und andere bleiche Menschen. Rannten über Schlachtfelder. Durch rauchende Städte. Durch den Tod, der immer wieder über sie fiel wie ein silberner Vorhang und zerschlitzt werden musste, damit es weiterging. Und weiterging. Und weiterging. Und dann ...
Riesenhaft empfing ihn in seinen Träumen die Wüste.
Ozah
Hel schlief tief. Ihre Träume waren schwarz und raumlos wie ihr Ritt auf der Wraude, und sie versank in einem dichten Gefühl der Sicherheit, das keine Gründe brauchte. Als sie aufwachte, glaubte sie, dass Stunden vergangen sein mussten. Doch die anderen schliefen noch fest. Draußen war ein grauer Tag angebrochen.
Hels Magen knurrte. Leise streckte sie sich nach ihrem Bündel aus und öffnete die Lederschnüre. Ein Wasserschlauch kam zum Vorschein, eckiges Krustenbrot und getrocknete Fleischstreifen. Es war offenbar eine Ration für Notfälle. Also genau das, was man in diesem Gasthof brauchte.
Hel knabberte am Brot und fand zu ihrer Freude noch ein ganzes Stück Hartkäse neben dem Trockenfleisch. Alles in allem war es kein schlechtes Frühstück, besonders wenn man jahrelang Bassia als Schiffskoch gehabt hatte. Die Erinnerung an ihn durchdrang Hel wie ein kalter Sog abwärts. Sie schluckte hinunter.