Eine Weile saß sie mit angezogenen Beinen auf ihrer Pritsche, den Kopf an die Wand gelehnt, und blickte aus dem Fenster. Es war merkwürdig, die Hausdächer so hoch vor sich aufragen zu sehen. Nach einem Leben in der Luft überkam sie so nah an der Erde immer wieder ein Gefühl, erdrückt zu werden. Zu versinken. Wie wirr und undurchschaubar doch alles aus der Nähe wirkte, was von weit oben ganz leicht zu fassen war. Hel beobachtete eine Maus, die an der Wand entlanghuschte.
Draußen knarzte die Stiege. Jemand kam nach oben und der Geschwindigkeit der Schritte nach konnte es nicht der Wirt sein. Hel öffnete vorsichtig die Tür.
Es war Kelda. Er hielt ein Bündel hoch. Sie ließ ihn ins Zimmer.
»Ich habe Essen mitgebracht. Sind die anderen schon wach?«, fragte er leise. Das Bündel verströmte warmen Duft.
»Sie schlafen noch. Soll ich sie wecken?«
Kelda schüttelte den Kopf. Dann öffnete er das Bündel und reichte ihr ein rundes weiches Brötchen, an dem sie sich fast die Finger verbrannte. Er selbst nahm sich auch eins, ließ sich auf der freien Pritsche nieder und aß mit geschlossenen Augen. Hel setzte sich ebenfalls. Das Brötchen war mit Bratfisch gefüllt und schmeckte nicht schlecht.
Als Kelda sein Brötchen verspeist hatte, legte er sich hin und schien einzuschlafen. Weil sie nichts anderes zu tun hatte, rollte auch Hel sich in ihrem Umhang ein und wartete darauf, dass die anderen erwachten.
Es dauerte nicht lange, bis aus den Zimmern nebenan Geräusche drangen. Olowain begann sich zu regen und streckte sich, dass jeder Knochen seines langen Körpers knackte. Kelda, den Hel für schlafend gehalten hatte, schlug die Augen auf und erhob sich, als hätte er nur darauf gewartet. »Ich hole die anderen«, sagte er in Olowains Richtung und war schon durch die Tür geschlüpft.
Der Magier richtete sich träge auf, dann schüttelte er sich und bewirkte durch einen raschen Schwenk seines Stabs, dass der Umhang sich auf seinen Schultern zurechtrückte, sein zerzaustes Haar zurückgestrichen wurde und alle Strohhalme von ihm abfielen. Nur gegen seine verquollenen Augen konnte selbst Magie nichts ausrichten.
Als Kelda zurückkam, brachte er Harlem, die Söldner und einen übernächtigt wirkenden Nova mit. Hel hatte ihn noch nie so gesehen. Er war blass und trug eine Stille im Gesicht, die gar nicht zu ihm passen wollte. Selbst seine Haare kamen ihr schlapper vor als sonst – er hatte sie sich glatt hinter die Ohren gestrichen.
Mit einem Gähnen warf er sich neben sie auf die Pritsche. Das Brötchen, das Kelda ihm austeilte, verschlang er in vier Bissen. Doch als Harlem ihm ihres anbot, die ihre Knollen vorzog, lehnte er dankend ab und verschränkte die Arme über dem Bauch.
»Ich habe mich umgehört«, begann Kelda, gerade so laut, dass man ihn im allgemeinen Kauen verstand.
»Ja«, schmatzte Arill und schaffte es, sogar mit vollen Backen grimmig auszusehen. »Was ist da los gewesen mit den ganzen Isen vor der Stadt?«
»Letzte Nacht und in den Tagen davor hat es Unruhen gegeben. Anscheinend sind einige Lieferungen Lirium vom Königshof Moia ausgeblieben. Manche munkeln, der Dämon hätte die Handelskarawanen auf dem Weg hierher überfallen, andere glauben, Mutter Meer und die Isen stecken hinter dem Raub. Höchstwahrscheinlich aber wurde einfach nichts für Pellinar auf den Weg geschickt. Die Stadt hat keinen eigenen Magier, und Moia ist schon damit überfordert, ihre wichtigeren Städte mit magischer Vertretung weiterhin zu versorgen. Das ist jedenfalls meine Meinung.« Er schlug die Augen nieder. »Pellinar befindet sich in einer Notsituation. Es heißt, seit dem Krieg vor zwanzig Jahren ist Lirium nicht mehr so rar und teuer gewesen. Also wurde beschlossen, dass fortan kein Lirium mehr an Isen verkauft werden darf. Nur noch an Stadtbewohner mit vollem Bürgerrecht.« Er sah Olowain so direkt an, dass es Hel wie ein Vorwurf schien. Wieso sonst sollte er ausgerechnet jetzt Blickkontakt suchen, wenn er ihn sonst scheute? Doch weder sein Ausdruck noch seine Stimme verrieten irgendwelche Gefühle. »Der Beschluss hat für Empörung in der isischen Bevölkerung gesorgt. Vor ein paar Tagen wurde überall in Pellinar Lirium gestohlen. Man verdächtigte die Isen, und wenn es zunächst gar nicht die Isen gewesen waren, dann begingen sie spätestens danach die Diebstähle, derer man sie bezichtigte. Es kam zu Gewalttaten. Ein Liriumhändler, der sich weigerte, an Isen zu verkaufen, wurde ermordet gefunden. Daraufhin kam es zu tödlichen Überfällen und Brandstiftung in den isischen Vierteln. Nun haben sie sich zusammengetan. An jeder Straßenecke behauptet jemand, Mutter Meer zu sein oder zumindest zu ihrem engeren Kreis zu gehören. Wenn die Rebellenanführerin aber der mächtige Dämon ist, den wir suchen, ist sie gewiss nicht in Pellinar. Sonst hätte sie die Niederlage verhindert. Gestern wurden die Isen aus der Stadt vertrieben. Zwar vorerst nur die Unruhestifter, aber ich schätze, dass es nicht lange dauert, bis auch die gehen müssen, die sich bis jetzt ruhig verhalten haben.«
»Wo sollen sie denn hingehen?«, fragte Hel verzagt, als niemand sonst Anteilnahme zeigte.
»Die Frage kann im Augenblick keiner beantworten. Viele Isen werden sich auf die Suche nach der geheimen Bewegung machen. Wenn Mutter Meer und ihre Rebellen jetzt noch nicht existieren, dann wird es sie bald geben.« Wieder flog Keldas Blick zu Olowain. »Aber das interessiert uns nicht. Wir gehen davon aus, dass die Rebellenanführerin bereits existiert und sie über dämonische Kräfte verfügt. Es wäre gut, die Isen in Pellinar zu beobachten und zu sehen, wohin sie ziehen. Wenn wir Glück haben, führen sie uns zu unserem Ziel.« Er hielt kurz inne. »Es gibt eine Heilerin, die angeblich Kontakt zu den Rebellen hat. Man sagt ihr nach, dass sie Mutter Meer kennt.«
Olowain schluckte einen Bissen hinunter. »Das ist doch fabelhaft! Ich bin sehr zufrieden mit dir, mein Freund. Du arbeitest wirklich schnell.«
Kelda überging das Kompliment völlig. »Ich schlage vor, ich suche die Frau auf. Wir müssen nicht alle zusammen gehen. Nur für den Fall, dass man mir auf die Schliche gekommen ist und eine Falle stellt, würde ich gerne jemanden mitnehmen.«
Olowain räusperte sich laut. »Arill, das ist kein Problem für dich, nehme ich an? Ich würde ja auch mitkommen. Allerdings könnte man mich als Magier erkennen, was uns gewiss nicht weiterhelfen würde, im Gegenteil. Nein, also bleibe ich hier und, äh, wache über die, die hierbleiben.«
»Danke, aber statt dem Söldner würde ich lieber das Mädchen dabeihaben, das Magie sehen kann.« Er wandte sich an Hel. »Wenn wir uns einem Haus nähern, kannst du dann erkennen, wie viele Leute sich darin befinden?«
Hel rutschte hin und her. »Ich denke schon. Ja.«
»Gut. Dann wissen wir, ob man uns in einen Hinterhalt locken will. Also gehen wir beide. Mehr würden nur Misstrauen erregen.«
Nova richtete sich auf. »Aber ich werde mitkommen.«
Kelda schüttelte den Kopf. »Bei dem Mädchen kann ich immer noch behaupten, dass sie zu mir gehört. Aber zwei sind einer zu viel.«
Hel gab Nova mit einem Blick zu verstehen, dass er nicht widersprechen sollte. Er spitzte unsicher die Lippen, was ebenfalls neu an ihm war.
»Wir lassen unsere Umhänge hier«, fuhr Kelda fort. »Sie sehen zu sauber aus.«
Hel nickte und legte den Umhang ab. Sofort wurde ihr kälter. Sie hatte gar nicht bemerkt, dass es recht kühl im Raum war. Auch der Ise zog den magischen Umhang aus und erhob sich. Er hielt Hel die Tür auf und sagte über die Schulter zurück: »Bis nachher. Wir beeilen uns.«
Arill stand auf. »Wir begleiten euch bis dorthin.«
»Nein, danke. Es kann sein, dass man uns beobachtet. Bis später.« Damit war er hinausgetreten und schloss die Tür hinter ihnen. Hel stand allein mit ihm im dämmrigen Flur. Mit den Händen ertastete sie die Stiege und kletterte hinab. Der Wirt stand an der Feuerstelle und schnippte Kartoffelstücke in einen brodelnden Kessel. Dabei summte er leise vor sich hin und bemerkte Hel und Kelda gar nicht. Sie beschlossen, ihn nicht zu stören. Leise schlichen sie hinaus. Der Hof war jetzt kaum heller als in der Nacht. Sie stiegen die glitschigen Stufen hinab und schoben sich durch das Gässchen, bis sie auf der Straße ankamen. Eine unglaublich dünne miauende Katze kam auf Hel zugelaufen und strich ihr um die Beine. Sie kraulte ihr struppiges Fell und hatte bereits ihren Beutel geöffnet, um der Katze Trockenfleisch zu geben.