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»Komm«, sagte Kelda ohne Tadel. Hel legte der Katze das Fleisch hin und folgte ihm die Straße hinauf.

Eine Weile gingen sie durch holprige, schiefe Gassen, die sich alle so ähnelten, dass Hel schon nach wenigen Ecken die Orientierung verloren hatte. Doch Kelda schien sich auszukennen. Sie beschleunigte ihren Schritt, bis sie neben ihm ging. Er sah sie nicht an, also ließ auch Hel ihren Blick wandern.

»Ist Pellinar sehr arm?«, fragte sie.

»Wir sind an der Grenze zum Isenviertel. Nicht alle Teile der Stadt sind so heruntergekommen.«

Hel musste an Jureba denken. Obwohl die alte Trolltreiberin ihr so oft Geschichten erzählt hatte, war sie nur selten auf ihr Volk zu sprechen gekommen. Hel hatte immer das Gefühl gehabt, dass sie sich ihrer Herkunft schämte. Nur wenn sie über die Trolle fluchte, hatte sie in der Sprache der Isen gesprochen, die zischend und rauschend war wie trockenes Gras im Wind. Hel wünschte sich, sie hätte Jureba mehr ausgefragt, als sie noch Gelegenheit gehabt hatte. Sie wusste nicht einmal, warum Jureba ihrer Heimat den Rücken gekehrt und Trolltreiberin geworden war. Aus ihrer Vergangenheit hatte sie stets ein Geheimnis gemacht.

»Wenn die Isen so schlecht in Pellinar leben, wieso sind dann so viele hier?«, fragte Hel.

Kelda warf ihr einen kurzen, erstaunten Blick zu. Vielleicht war sie zu direkt. Oder es verwunderte ihn, dass sie daran interessiert war.

»Weißt du etwas über den Krieg, der vor zwanzig Jahren in Moia gewütet hat?«, fragte er zurück.

Hel nickte zögernd, schüttelte dann aber den Kopf. »Ich hab mal davon gehört, aber ich weiß nichts darüber.«

»Damals war Moia nicht so groß wie heute. Es gab noch ein anderes Königreich namens Lhun, das dort lag, wo heute der nördliche Teil von Moia ist. Seit Jahrhunderten hatten Moia und Lhun um Land gekämpft und irgendwann brach ein großer Krieg aus. Anfangs unterstützte die Magierschaft beide Seiten. Das ging viele Jahre so. Doch als Lirium immer knapper wurde und die Preise mehr und mehr stiegen, stürzten die beiden Königreiche sich in enorme Schulden bei der Magierschaft. Als beide Seiten nicht mehr zahlen konnten, forderten die Magier den Frieden. Doch Moia und Lhun konnten nicht einfach den Krieg beenden. Weil magische Waffen nun fehlten, griff man auf etwas anderes zurück – Menschen. Nicht nur Männer wurden einberufen, auch Frauen, Kinder. Weil die Bevölkerung beider Länder ungefähr gleich groß war – und sich gleich schnell verringerte -, konnte aber auch das den Krieg nicht entscheiden. Da kam Moia auf die Idee, Isen von den Inseln zu rekrutieren. Einige kamen als Söldner her. Aber die meisten wurden verschleppt, oft im Kindesalter, und zu Kriegern ausgebildet. Sie waren es, die den Sieg für Moia entschieden. Lhun wurde dem Erdboden gleichgemacht unter der Flut neuer Soldaten. Nichts, das irgendwie an seine Existenz erinnern könnte, wurde verschont. Seitdem gibt es nur noch Moia. Das alles ist mehr als zwanzig Jahre her. Nur wenige Isen, die den Krieg überlebt haben, kehrten in ihre Heimat zurück.«

»Warum?«

Keldas hellgrüne Augen schienen sie durchbohren zu wollen. »Es war nicht mehr ihre Heimat. Es gibt ein Sprichwort bei uns: Die Kinder, die ihre Eltern verlassen, sind tote Kinder. Tote kommen nicht zurück.« Er wies nach rechts und sie bogen in eine schmale, steil abfallende Straße. Die Fenster waren mit Holzbrettern vernagelt. Kaminrauch hing in der Luft, es roch nach verbranntem Getreidebrei und feuchtem Stroh.

»Aber wenn die Isen Moia zum Sieg verholfen haben ... wieso ist man ihnen heute nicht dankbar?«

»Man dankt Sklaven nicht.« Ihr war, als ginge er schneller als vorher. »Niemand wollte die Isen hier haben. Sie waren für den Krieg gekommen und der Krieg war vorbei.«

Irgendwo hinter den losen Steinmauern begann ein Säugling zu schreien. Direkt vor ihnen öffnete jemand ein Fenster und leerte einen Topf auf die Straße; Hel konnte gerade noch anhalten, bevor ihr der übel riechende Inhalt auf die Füße spritzte. Auf Zehenspitzen hüpfte sie Kelda hinterher.

»Nachdem der Krieg vorbei war, schaltete die Magierschaft sich wieder ein. Sie nahmen sich vieler Isenkinder an, die zum Kämpfen entführt worden waren. Man fürchtete wohl, was aus ihnen werden könnte, wenn sie älter wurden und das Töten beibehielten. Zurück auf die Inseln wollte man die erprobten Krieger aber auch nicht bringen; niemand bildet ein Heer aus, um dann andere damit zu rüsten. Die Magier errichteten Dörfer entlang der Gewässer des Horrùn, um den Kindern eine neue Heimat zu geben. Viele haben sich aber lieber in den einstigen Kriegsgebieten niedergelassen.«

Sie gingen im Gleichschritt. Hel lauschte dem Klacken auf dem Kopfsteinpflaster und dem Pochen ihres Herzens. »Und du?«, fragte sie leise.

Er antwortete nicht sofort. Sie spürte, dass er die Luft anhielt. »Ich verdanke der Magierschaft mein Leben. Mein zweites Leben. Ihre Beweggründe dafür ändern nichts an der Tatsache.«

Ein Durchgang erschien links und sie betraten tropfende Gewölbe. Stufen führten überall zu wackeligen Vorsprüngen hinauf und verloren sich in Kellerschächten. Bei manchen Fenstern und Türen hingen Öllampen, doch sie schienen die Dunkelheit nur zu vertiefen. Endlich machte Kelda vor einem schmalen Tor halt. Vertrocknete Blumen steckten in den Ritzen der Holzbretter. Ein Stein war mit einem Seil und einem Nagel angebracht, den Kelda zum Anklopfen benutze.

»Sieh nach, wie viele Leute im Haus sind«, flüsterte er. Ehe Hel antworten konnte, öffnete sich das Tor.

Eine isische Frau tauchte auf, unheimlich beleuchtet von einer Talgkerze, die sie vor sich hielt. Ihre Haut war selbst für eine Isin ungewöhnlich dunkel, beinahe schwarz – nur auf der knochigen Nase lag ein heller Schimmer. Die großen rotbraunen Augen wirkten dadurch umso strahlender. Pechschwarzes Haar fiel ihr fast bis zum Gürtel. Ihr Blick fegte von Kelda zu Hel, blieb einen Moment an ihrer Augenklappe hängen und heftete sich dann wieder auf den Isen. Sie reckte das Kinn.

»Wir wollen zu Ozah«, sagte Kelda. »Haben wir sie gefunden?«

»Szyeh aesh asun?« Es klang wie ein rasselnder Atemzug, wie fauchender Wind. Hel erspähte dabei ihre Zähne, deren Spitzen schwarz gefärbt waren. Sie schauderte.

»Dnys eh syha ne aszyr shan yze. Dürfen wir eintreten?«

Die Isin starrte Hel an. Kalter Hass glühte in ihren Augen. »Was willst du hier?«

Hel hätte nichts erwidern können, selbst wenn Kelda ihr nicht zuvorgekommen wäre: »Die Magierschaft hat ihre Eltern getötet. Sie gehört seitdem zu mir. Zu uns. Hast du eine Medizin für ihr Auge? Zhabar sagte mir, du bist die beste Heilerin in Pellinar.«

Ozah musterte sie feindselig. Doch dann trat sie zurück und verschwand, ohne das Tor zu schließen. Kelda schob es auf, um ihr zu folgen.

»Hast du gesehen, ob sonst jemand da ist?«, flüsterte er kaum hörbar. Fiebrig zog Hel die Augenklappe zur Seite und spähte ins Dunkel. Sie sah das Licht der Isin. Kleine Tiere wimmelten überall, Mäuse wahrscheinlich oder Ratten. Lirium und magische Gegenstände gab es weit und breit keine. In der Nähe war noch mehr Leben, aber soweit sie erkennen konnte, nicht im selben Haus.

»Die Frau ist allein«, murmelte sie. Kelda schob das Tor auf. Hel tapste ihm nach. Am Ende des Vorhofs blinzelte Feuerschein durch einen löchrigen Vorhang. Hel sah Ozah im Raum herumhantieren. Sie traten ein. Gelber Rauch waberte um die Holztische und geflochtenen Körbe, die von Motten zerfressenen Sitzkissen und Matten. Ein großer Kamin nahm eine ganze Seite des Raumes ein, ringsum hingen Kräuter zum Trocknen und Gläser mit verschiedenen Inhalten stapelten sich in den Wandnischen. Ozah stopfte eine lange hölzerne Pfeife und ging vor dem Feuer auf und ab, ohne sie aus den Augen zu lassen.