Выбрать главу

Schweigen breitete sich aus. Hel musste an die Augen der Isin denken, an ihr unheimliches Lächeln, als sie mit Kelda gesprochen hatte. Sie schielte zu ihm hinüber. Ob es ihm nicht schwerfiel, seine eigenen Leute auszuspionieren? Auch wenn er der Magierschaft sein Leben verdankte – die Blicke, die er Olowain zuwarf, wenn der Magier es nicht merkte, beunruhigten sie. Angestrengt versuchte sie, sich zu erinnern, ob sie das Wort ›Naruhl‹ gehört hatte, als er sich mit Ozah in ihrer Sprache unterhalten hatte. Aber sie wusste es nicht mehr.

Harlem, die bis jetzt an der Wand gelehnt hatte, schob sich ihren Gürtel mit den Stiletten zurecht und stemmte die Hände in die Hüften. »Also, dann heißt unser Ziel Naruhl?«

Großäugig wandte Nova sich an Olowain. »Diese Sache mit dem Fluch, also, das ist nur ein Märchen, oder? Was ... für eine Art von Fluch soll es denn sein?«

Olowain winkte ab. »Ich weiß nichts Genaues darüber, wie gesagt. Nur dass keine Magie in Naruhls Boden dringen kann. Das Land ist tot und war es immer.« Er zog die Luft ein. »Der Weg dorthin macht mir mehr Sorgen. Niemand kennt die genaue Lage von Naruhl, aber auf jeden Fall führt keine der Adern dorthin. Wir müssen durch das Lebendige Land reisen.«

»Das ist kein Problem«, sagte Kelda sofort. »Die Wrauden können uns tragen.«

»Und in unseren Beuteln sind Feenlichter«, ergänzte Harlem.

»Aber wie sollen wir den Ort finden, wenn wir nicht genau wissen, wo er ist?«, warf Arill skeptisch ein.

Keldas dunkle, schlanke Hand wies auf Hel. »Sie kann Magie und Leben sehen. Also wird sie auch einen Ort sehen können, der tot ist.«

»Das Land ist doch vielerorts ausgestorben. Vielleicht führe ich euch irgendwohin, wo es einfach kein Lirium mehr im Boden gibt, aber das heißt nicht, dass dort Naruhl liegt. Verlasst euch bitte nicht nur auf mich«, sagte Hel kleinlaut.

Kelda sah sie eindringlich an. »Habe mehr Selbstvertrauen. Du musst dich nicht kleiner machen, als du bist.«

Sie wurde rot. Und schämte sich umso mehr.

»Nun, dann lasst uns aufbrechen. Ich schlage vor, wir folgen der Ader nach Norden, bis wir Orrún erreichen. Dort enden die Straßen Aradons. Dann sind wir auf uns allein gestellt. Am Fuß der Gebirge können wir nach Westen reisen und hoffen, dass wir auf Naruhl stoßen.« Olowain seufzte tief. »Wieso kann sich diese Isin nicht in einer ganz gewöhnlichen Stadt verstecken?«

Kelda erhob sich und schulterte seinen Beutel. »Sie ist schließlich keine gewöhnliche Isin, oder?«

Der alte Wirt ließ sich nicht davon abbringen, jedem von ihnen in Papier eingewickelte Kartoffelscheiben in die Hand zu drücken, ehe sie die Herberge verließen.

»Kommt wieder!«, rief er ihnen nach. Hel winkte zum Abschied. Als sie auf die Straße zurückkehrten, warf sie einen skeptischen Blick in ihr Päckchen und zog mit Daumen und Zeigefinger ein graues Haar zwischen den Kartoffeln heraus. »Ihh. Ich glaube, ehe ich das essen kann, werde ich ...«

Nova drehte sich kauend zu ihr um und zerknüllte sein Papier. »Willst du nicht?«, schmatzte er und deutete auf ihre Kartoffeln. Verdutzt ließ sie sich das Päckchen aus der Hand nehmen und sah zu, wie er sie sich in den Mund warf. Eine Gänsehaut schoss ihr über den Nacken.

»Hab ich einen Hunger!«

Harlem hielt ihm ihre Kartoffeln hin. Alle anderen hatten ihre Portionen bereits am Straßenrand entsorgt.

»Oh, äh, nein danke«, sagte Nova hastig. Harlem warf ihm einen überraschten Blick zu, zuckte aber dann mit den Schultern und legte das Päckchen auf ein Fenstersims.

»Ich glaube nicht, dass sie dich vergiften will«, raunte Hel ihm zu, als die Zwergin ein Stück vor ihnen lief. »Obwohl ... mit den Kartoffeln wäre ihr das wahrscheinlich sogar gelungen. Unbeabsichtigt.«

Nova lächelte unsicher. Dass Hel seine Furcht vor der Attentäterin sah, schien ihm unangenehm. Aber Hel fand nichts Schlimmes daran – sie kannte schließlich weitaus feigere Seiten an ihm. Aufmunternd drückte sie seinen Arm.

Sie verließen Pellinar durch das Tor, durch das sie letzte Nacht gekommen waren. Im bleigrauen Tageslicht wirkten die Gassen nicht gar so verworren wie in der Dunkelheit, trotzdem war Hel froh, die Stadt zu verlassen. Aufruhr lag in der Luft und der Wind strich rastlos aus immer neuen Richtungen durch die Straßen. Angst atmete aus den Häusern.

Am Tor standen heute fast noch mehr Wachen als letzte Nacht. Die Männer wirkten grimmig und übernächtigt. Manche von ihnen hatten zerrissene Wämser, sodass man kaum noch das rote Zeichen erkennen konnte. Olowain trug wieder seine Kapuze, um sein weißes Haar zu verbergen, und sein Stab hatte sich in den knotigen hölzernen Wanderstock verwandelt. Die Wachen bedachten nur Kelda mit argwöhnischen Blicken, ließen sie aber wortlos passieren.

Vor der Stadt waren noch immer Lager. Die Isen hatten Holzstäbe in den Boden gesteckt und Decken übergeworfen, um darunter zu schlafen oder sich unbeobachtet zu beraten. Hier und da brannten kleine Flammen, doch die meisten Feuerstellen waren erloschen, schwarze Krater im Boden wie Einschläge von Kometen. Ein alter Ise stand an einen Stab gelehnt bei den Zelten und sang. Seine Stimme schwang im Wind wie zerknittertes Papier, mal Heulen und mal zitterndes Summen. Hel konnte nicht entscheiden, ob es furchtbar oder wunderschön klang – vielleicht beides. Eine stille Niedergeschlagenheit kam über sie. Sie musste die isischen Worte nicht verstehen, um zu wissen, dass der Alte von Schmerz sang, von Verlust und Verzweiflung. Ein warmes Brennen stieg hinter ihren Augen auf, sie biss die Zähne zusammen, um die Tränen zu unterdrücken. Und plötzlich musste sie an Mercurin denken.

Mercurin, der ihr immer noch so nahe schien. Dessen Stimme, dessen Blick stets hinter allen Gedanken lag, gebettet in den weichen Nebel unberührter Erinnerung. Wenn er doch nur zugelassen hätte, dass sie ihn kennenlernte! In diesem Moment war sie ganz sicher, dass er etwas Schreckliches für sich behalten hatte. Jeder trug irgendeine Bürde, schien ihr, niemandes Vergangenheit war ohne Albträume. Aber seine Verschwiegenheit ließ sie Schlimmes vermuten. Über Gharras Tod zu sprechen, fiel ihr schon schwer, aber wie viel entsetzlicher mussten Dinge sein, die man gar nicht aussprechen konnte?

Sie folgten der Straße, die in die Wälder führte. Hel hielt Ausschau nach den Wrauden, doch das Dickicht war zu verschlungen. Unauffällig schob sie die Augenklappe zur Seite. Kleine Tiere bevölkerten den Wald. Nur einen Schritt neben der Straße schlief etwas, das dem Licht zufolge ein Igel oder vielleicht ein Waschbär sein konnte. Hinter einer Gruppe dichter Tannen grasten Rehe. Auch durch die Pflanzen pulsierte hier und da Lirium; die Zweige einer alten Weide wurden nicht etwa vom Wind bewegt, sondern von der Magie der Erde. Die Lichter von Schmetterlingen, Libellen und Käfern glitzerten wie Sternenstaub bis in die Ferne. Hel beobachtete das vielfarbige Leben und merkte erst nach einer Weile, wie beruhigend sie es fand. All die vielen, vielen Lebensfunken waren zwar an unterschiedliche Körper gebunden, doch sie bestanden aus demselben Licht, waren Teil eines Ganzen. Wenn ein Licht erlosch, würde es irgendwo anders neu aufleuchten. Es ging nichts verloren. Es konnte niemals etwas verloren gehen.

Hel spürte, dass Nova zu ihr herüberspähte, und zog sich die Augenklappe hastig wieder zurecht. Hoffentlich hatte er nicht ... aber er schien eher ängstlich als angewidert, also hatte er ihr Auge nicht gesehen. Sie gab ihm zu verstehen, dass es keinen Grund zur Sorge gab. Jedenfalls keinen, den sie mit der zweiten Sicht erkennen konnte.

Die Wrauden, die Hel jeden Moment erwartete, kamen und kamen nicht. Allmählich dunkelte der Himmel hinter dem dichten Blätterdach. Hel fiel auf, wie spät es schon war, als sie eine Herberge am Wegrand passierten. Der Hof lag auf einer Lichtung und blinzelte aus erleuchteten Fenstern. Man hatte die Nachtlampen schon angezündet. Ein paar Gestalten standen unter den schwarzen Bäumen und tuschelten; es waren Isen, wahrscheinlich aus Pellinar. Bei dem Gedanken an ein Bett und Abendessen wurden Hel die Schritte schwer. Doch weder Kelda noch Olowain schenkten der Herberge Beachtung.