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Hel aß ganz langsam, als könne sie den Frieden im Raum so mit in sich aufnehmen. Alles, was von der Außenwelt eindrang, war das blühende Morgenlicht. Nichts schien die Ruhe in der Stube erschüttern zu können.

Als sie satt waren und die Müdigkeit kam, führte die Magd sie eine knarzende Treppe nach oben in das größte Zimmer des Hauses, wo ein Dutzend Betten in gewölbten Wandnischen standen. Dankbar ließ Hel sich in die Kissen sinken. Sie wäre am liebsten noch eine Weile wach geblieben, um den Moment zu genießen, doch es war unmöglich. Sobald sie die Augen schloss, versank sie in einem tiefen Schlaf.

Geräusche durchbohrten ihre Träume wie Nadeln eine Papierwand. Die Tür schlug auf.

»Raus! Wo, da ist er! Raus mit ihm!«

Hel fuhr zusammen. Der Raum war plötzlich voller Menschen. Sie erkannte die Magd von vorhin wieder, die auf eins der Betten zeigte. Männer waren da. Sie rissen die Decken weg, zerrten jemanden auf den Boden, traten und stießen zu ... Hel schrie auf. Kelda war im Gerangel und flog so heftig gegen die Tür, dass das Holz splitterte. In Windeseile waren die Söldner an seiner Seite und trieben die Männer zurück. Schwerter schrillten aus den Scheiden.

»Der Ise muss raus!«, rief ein dicker alter Mann. »Los, verschwindet!«

Ehe Hel sichs versah, stolperten sie die Treppe hinab und durch die Küche, die nun leer war, keine Menschen, kein Sonnenlicht. Olowain fuhr auf der Türschwelle herum. Das weiße Haar flatterte wild um sein Gesicht. Hel hatte ihn nie so erzürnt gesehen. Eine Sekunde dachte sie, er würde seinen Stab gegen die Männer richten. Doch er kehrte ihnen den Rücken und verließ die Herberge mit wehendem Umhang.

Hastig liefen sie ihm nach. Die Tür wurde hinter ihnen zugeschlagen, doch der laute Knall versank in einer Woge aus Lärm, der von der Stadt herwehte. Gestalten rannten überall. Feuer. Es brannte. Schwerer schwarzer Rauch quoll zwischen den Häusern hervor und verschleierte die kämpfenden Menschen und Isen.

Eine kreischende Isin stürzte in den Fluss, in den Armen etwas, das wie ein Säugling aussah. Die Straßen spuckten eine Horde Flüchtlinge aus, die im nächsten Moment von ihren Verfolgern eingeholt und niedergeknüppelt wurden. Aus einer anderen Richtung kamen Isen mit Fackeln angerannt und verwandelten den brutalen Überfall in eine Schlacht.

Bald waren die Isen in der Überzahl. Haustüren wurden eingetreten. Ein Mann flog durch ein Fenster. Irgendwo explodierte eine Wolke Lirium. Strohdächer begannen, zu flimmern und wie Tentakel in den Himmel zu greifen.

Einer der Söldner zerrte Hel vorwärts. Sonst hätte sie sich wahrscheinlich gar nicht bewegen können. Rauchschwaden nahmen ihnen die Sicht. Wo war der Wald? Wo die Stadt? Hel stürzte über eine Wurzel und schlug sich das Knie auf. Relis packte sie um die Taille und riss sie weiter. Geisterhaft durchschwebten Bäume das Zwielicht. Keuchen. Schreie. Dann Stille. Plötzlich wurde es Nacht und die Dunkelheit nahm sie in ihre schweigende Umarmung.

Das Dorf

Olowains Stab leuchtete auf und das blassblaue Licht hob ihre Gesichter aus der Schwärze. Schwer atmend sahen sie sich an. Dickicht umgab sie, und außer einem gelegentlichen Eulenruf war es so still, als wäre die Stadt nur ein Albtraum gewesen. Aber die Bilder verließen Hel nicht. Die Isin, die mit dem Kind im Arm ins Wasser stürzte. Die niedergeknüppelten Gestalten. Sie hatte Menschen sterben sehen. Hinter den Bäumen starben sie noch. Ihre Beine zitterten, und das lag nicht nur an dem stechenden Schmerz in ihrem Knie. Sie fühlte etwas Nasses auf dem Stoff, aber sie wollte nicht nachsehen, wie stark sie blutete.

»Was«, stammelte Nova, »was war das?«

»Das war nicht Mutter Meer«, stieß Olowain hervor. Er stützte die Arme in die Seiten und rang nach Luft. Offenbar war er es nicht gewohnt, so zu rennen. »Das eben«, er deutete mit dem Finger zurück, »das war kein geplanter Überfall. Die Menschen wollten alle Isen aus der Stadt werfen, niemand war richtig bewaffnet.«

»Vermutlich hat man den Isen Lirium verweigert wie in Pellinar«, warf Kelda leise ein. Er hatte allen anderen den Rücken zugekehrt und schien sich selbst zu umschlingen. »Die Flüchtlinge aus Pellinar, die nach Mutter Meer suchen, müssen hier vorbeigekommen sein. Sie brauchten Lirium. Deshalb kam es so schnell zum Kampf. Sie haben die Gewalt aus Pellinar mitgenommen.«

Eine Weile sammelten sie sich. Schließlich holte Olowain tief Luft und trat auf Kelda zu. »Ich muss mich dafür entschuldigen, dass du so abscheulich behandelt wurdest. Ich bin für das Wohl aller hier verantwortlich, aber ich fürchte, ich habe zu wenig getan. Oder zu langsam reagiert. Von nun an sollst du nie wieder für Verbrechen büßen müssen, die dein Volk begeht. Darauf gebe ich dir mein Wort.« Als er eine Hand auf Keldas Schulter legte, zuckte der Ise zusammen.

»Du bist verletzt!«

»Nein«, erwiderte Kelda prompt, doch da hatten ihn die anderen bereits umringt. Er hielt seinen rechten Arm an sich gedrückt. Im ersten Moment war Hel nur erleichtert, kein Blut zu sehen. Doch Keldas Augen waren wässrig, und er biss die Zähne so fest zusammen, dass die Kieferknochen vorstanden.

»Was ist passiert?«, fragte Olowain alarmiert.

»Ich weiß nicht«, presste er hervor. »Ich glaube, ein Tritt ... als ich gegen die Tür gefallen bin. Ein dummer Unfall.« Er versuchte, den Arm zu strecken, und zog ihn stöhnend wieder ein. Eine unnatürliche Wölbung zeichnete sich unterhalb des Ellbogens ab. Hel wurde schlecht, als sie es sah.

»Das ist ein Bruch«, stellte Harlem fest. »Könnt Ihr ihn heilen, Meister Olowain?«

Nervös drehte er seinen Stab in den Händen. »Ich habe natürlich auch Bücher über Heilmagie gelesen, sehr alte Bücher, über antike Methoden der heilenden Magie und ... nun, es ist schon lange her. Und ich ... kann kein Bl ... Blut, kein Blut sehen!«

Arill zeigte mit dem Finger auf die Beule. »Da ist kein Blut.«

»Entschuldigt, Freunde, Heilmagie ist äußerst kompliziert und erfordert Jahre intensiver Studien, abgesehen davon glaube ich, dass der ... Knochen ... erst wieder in seine rechtmäßige und zugedachte Position gebracht werden muss, ehe Magie etwas bewirken könnte. Magie kann nur die Heilung beschleunigen.« Er tupfte sich mit einem Zipfel seines Umhangs über die Stirn und seufzte. Seine Stimme wurde so heiser, dass man ihn kaum verstand. »Also, was tun wir jetzt?«

»Auf jeden Fall sollten wir keine Zeit verlieren«, sagte Arill. »Sonst ist der Arm vielleicht für immer kampfuntauglich.«

Die Söldner bedachten Kelda mit entsetzten Blicken, doch er drehte sich nur weg und ging ein paar Schritte. Seufzend legte er den Kopf in den Nacken. »So viel Rauch ... hoffentlich können sie uns finden. Rauch tötet den Geruchssinn.«

Hel begriff nicht gleich, dass er von den Wrauden sprach, und fürchtete einen Moment lang, die Isen würden kommen. Ihr Herz hämmerte. Harlem hakte die Daumen in ihren Gürtel und ließ die Stilette leise klirren, wie immer, bevor sie zu sprechen anfing. »Wir sollten der Ader folgen und bei der nächstbesten Siedlung haltmachen. Wir brauchen einen Heilkundigen.«

»Die Frage ist nur, ob er einen Isen behandeln wird«, murmelte Kelda. Einen Moment schwiegen alle. Dann sagte Olowain mit Nachdruck: »Du wirst dieselbe Pflege bekommen wie jeder Mensch, mein Freund. Und wenn Geld nicht überzeugt, nun, dann werde ich mich eben als Magier offenbaren.«

»Gut«, sagte Kelda ungerührt. Dann wandte er sich zur Seite. »Sie kommen.«

Hel spitzte die Ohren. Bald vernahm auch sie das vertraute Geräusch von Tatzen im Moos. Es war das erste Mal, dass sie beim Anblick der Wrauden nichts als Erleichterung empfand. Kelda begrüßte sie noch ausgiebiger als sonst mit Streicheleinheiten und gemurmelten Worten. Die Wrauden antworteten ihm mit zärtlichen Berührungen. Auch Hel versuchte, die Tiere zu begrüßen wie er, und freute sich, als die Wraude sie behutsam mit dem Kopf anstupste. Dann wickelte Kelda seinen Arm in den Umhang und sie brachen auf.