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Lange ritten sie durch den Wald. Die Wrauden knurrten einander unruhig zu und schienen mehrmals die Richtung zu ändern, als wären sie sich plötzlich ihres Weges nicht mehr sicher. Doch schließlich fanden sie auf die Ader zurück. Der Mond stand hell über den Baumwipfeln und bemusterte den Pfad mit Licht. Es sah aus, als würden sie über Wasser und Seerosen fliegen.

Ein paar Stunden später tauchten Isen auf. Sie umringten ein Feenlicht am Straßenrand. Als die Wrauden heranpreschten, stießen die Kinder Schreie aus. Die Erwachsenen waren sogleich auf den Beinen, bewaffnet mit Ästen und Fackeln. Die Wrauden bogen scharf zur Seite ab. Im nächsten Augenblick waren die Gestalten hinter ihnen zurückgeblieben und ihr Licht tanzte in die Dunkelheit davon.

Sie verließen die Ader bei Morgengrauen, um im Schutz der Bäume zu rasten. Hel war todmüde. Dass sie das letzte Mal geschlafen hatten, schien Jahre zurückzuliegen – der Frieden der Herberge kam Hel vor, als wäre er nur in ihre Vergangenheit eingepflanzt worden und nie wirklich passiert.

Trotz ihrer Erschöpfung lag sie lange wach. Bilder zuckten vor ihren geschlossenen Augen. Immer wenn sie gerade wegdöste, träumte sie, noch auf der Wraude zu reiten und hinunterzufallen, tief zu fallen, in ein schwarzes, lichtbeflecktes Wasser ohne Grund ...

Und irgendetwas war hinter ihr her. Sie wollte sich umsehen, aber sie konnte ihrer eigenen Wahrnehmung nicht trauen. Die Sicherheit war nur eine Kulisse, hinter der Furchtbares lauerte. Jeden Moment konnte die Welt umkippen und ihr wahres Gesicht zeigen -

Mit einem heiseren Luftschnappen schrak Hel hoch. Ihr wurde bewusst, dass sie sich schon seit einiger Zeit mit aller Macht selbst zu wecken versucht hatte. Sie war atemlos, als wäre sie zu lange unter Wasser gewesen.

Zitternd fuhr sie sich über die Stirn. Ein paar Moosstückchen rieselten ihr aus den Haaren. Sie setzte sich auf, krempelte ihre Beinlinge hoch und untersuchte ihr Knie. Der Sturz letzte Nacht war nicht so schlimm gewesen, wie er sich angefühlt hatte. Ein Kratzer und ein blauer Fleck, mehr nicht. Sie rieb das getrocknete Blut mit Spucke weg.

Vogelgesänge erfüllten die Bäume. Warmes Gold goss hier und da durch das Blätterdach; die Sonne ging unter. Hel sah, dass die anderen noch schliefen. Auch die Wrauden lagen dicht aneinandergeschmiegt zwischen den Wurzeln einer riesigen Eiche. Nur ihr tiefer Atem und ein gelegentliches Ohrzucken verrieten, dass sie schlummerten, doch sonst wirkten sie gefährlich wie eh und je. Die Gefährten so sorglos neben ihnen liegen zu sehen, verkrampfte ihr sämtliche Muskeln, egal wie oft sie sich daran erinnerte, dass die Wrauden ihnen wohlgesinnt waren. Ganz würde Hel ihre Furcht vor ihnen nie ablegen.

Als sie den Blick über die Schlafenden wandern ließ, merkte sie, dass einer fehlte. Es dauerte nicht lange, bis sie erraten hatte, wer unter den Umhängen lag – Harlem war anhand ihrer Größe und ihres Schnarchens leicht zu erkennen, Novas wilde Haare lugten unter dem Stoff hervor, Olowain ruhte neben seinem Stab, und die Söldner lagen in Reih und Glied nebeneinander, als müssten sie auch im Schlaf Ordnung wahren. Der Einzige, den sie nicht ausmachen konnte, war Kelda.

Sie stand auf und sah sich um. In jeder Richtung breitete sich tiefes Grün aus und für einen Augenblick fühlte Hel sich so orientierungslos wie damals in der Wüste. Sie ging ein paar Schritte, nicht sicher, was sie vorhatte. Kelda zu suchen, war unsinnig. Sie würde sich nur verlaufen.

Ein ungutes Gefühl befiel sie. Sie musste an die Isen in der Stadt denken und an die Männer, die sie aus der Herberge geworfen hatten. Und das kalte Glänzen in Keldas Augen, die Selbstbeherrschung, mit der er seinen Schmerz unterdrückt hatte. War er zu den Isen zurückgekehrt?

Unentschlossen ging Hel auf die Bäume zu, blieb wieder stehen. Vielleicht sollte sie lieber die anderen aufwecken. Womöglich wusste Olowain ja, wo Kelda war. Aber wenn nicht ... würde sie Kelda dann verraten? Sie schüttelte den Kopf. Wenn er sich heimlich davongestohlen hatte, musste Olowain davon erfahren.

Als sie wieder umkehrte, entdeckte Hel plötzlich etwas hinter den Wrauden. Sie blieb stehen, ein kleines Lächeln auf den Lippen. So eng, wie Kelda sich in das Fell der Wraude geschmiegt hatte, war es wirklich nicht schwer, ihn zu übersehen.

Als die Wrauden erwachten, hoben sie gähnend die Köpfe, schleckten sich die Pfoten und begannen, sich zu strecken. Als sie merkten, dass Hel sie beobachtete, begannen sie, sich mit leisen Knurrlauten über sie zu unterhalten – da war sie ganz sicher. Dass die Tiere intelligent waren, vielleicht dieselben Gedanken in sich trugen wie Menschen und doch eine ganz andere Sprache sprachen, machte Hel mit einem Mal traurig. Es war, als würde man jemanden auf einer fernen Insel stehen sehen und wissen, dass ein unüberwindbares Meer zwischen ihnen lag.

Aber Kelda konnte schließlich mit den Wrauden kommunizieren. Sie hätte ihn gerne gefragt, wie er es machte.

Dann erhoben sich die Wrauden und liefen auf leisen Pfoten davon. Hel sah ihnen nach, bis die Dämmerung sie schluckte.

Es dunkelte, als die anderen erwachten. Kelda setzte sich mit verkniffenem Gesicht auf und tat Olowains Frage, wie es ihm ginge, mit einem Kopfschütteln ab. Der Magier schien ihm die Schroffheit nicht zu verübeln. In Stille aßen sie zu Abend, bevor die Wrauden zurückkehrten. Nachdenklich kaute Hel ihr Brot, von dem nicht mehr viel übrig war. Ihr Proviant reichte noch bis morgen, vielleicht übermorgen, wenn sie sparsam waren.

Sie folgten der Ader, ohne auf eine Stadt, ein Dorf oder wenigstens eine Herberge zu stoßen. Die tiefen Wälder wichen einer felsigen Hügellandschaft, die die Straße immer wieder zu verschlungenen Kurven zwang. Sie ritten an Schluchten vorbei, so tief, dass das Mondlicht ihren Grund nicht erreichte, und überquerten Steinbrücken, über und über mit Ranken bewachsen. Berge erhoben sich am Horizont. Hel vermutete, dass sie die Grenze nach Orrún und das Ende der Ader bald erreichen würden; vor ihnen lagen die Gebirge des Mittlands.

Gharra hatte ihr einmal erzählt, dass hier die Sturmjagd begonnen hatte. Einst waren die Berge in ständiger Bewegung gewesen, hatten ihre steinernen Körper durch das Land geschoben und täglich das Gesicht der Welt neu geformt. Dann waren hier so lange Stürme gejagt worden, bis alles ausstarb. Damals hatte noch niemand daran gedacht, wie schnell die magischen Quellen erschöpft sein könnten. Man war einfach froh gewesen, das Lebendige Land nicht mehr fürchten zu müssen.

Als der Tag nahte und noch immer keine Siedlung in Sicht kam, hielten sie auf einer Anhöhe, wo die Bäume zurückwichen und den Blick auf die Umgebung freigaben. Hel sah Wasserfälle von Klippen stürzen und Hügel aus dem Morgennebel ragen wie die Rücken von Drachen. Sie nahm die Augenklappe ab und suchte nach Leben. Doch weit und breit war kein Licht groß genug, um auf eine menschliche Siedlung schließen zu lassen. Hätte Kelda nicht so dringend Hilfe gebraucht, wäre die Einsamkeit Hel nicht unangenehm gewesen – die Vorstellung, dass das Land niemandem gehörte, nicht einmal den Blicken der Menschen, war plötzlich schön. Hel fühlte, dass die Welt groß war und sie mit all ihren Sorgen klein. Und es war ein gutes Gefühl.

An diesem Abend verzehrten sie ihren restlichen Proviant. Der letzte Bissen ließ sich kaum hinunterschlucken. Zwar hatten die Söldner versichert, dass es hier genug Wild zum Jagen gab, aber als Sturmjägerin war Hel es gewohnt, Proviant für einen bestimmten Zeitraum zu haben und neuen zu besorgen, wenn es nötig wurde. Sie hatten ihr Essen nie selbst erlegt, es war eine befremdliche Vorstellung.