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Hel wachte auf, als der Tag noch nicht ganz vorüber war. Mit geschlossenen Augen blieb sie liegen, noch nicht bereit, sich zu bewegen. Mit der zweiten Sicht sah sie die Lichter des Landes.

Unterhalb des Hangs strömte ein kleiner Bach vorbei, der voller Lirium war; sein Wasser sprang übermütig am Ufer entlang und formte hier und da kleine Wirbel, als wollte er die Strömung und alle Gesetze der Schwerkraft necken. Ein Hirsch, der trinken wollte, wurde unverhofft von einer Welle gepackt und ins Wasser gezogen. Erschrocken ergriff er die Flucht und verschwand im ruhigeren Dickicht.

Hel zog noch einmal die Knie an und kuschelte sich in ihren Umhang, ehe sie sich umdrehte und doch aufstand. Die Müdigkeit saß ihr noch in den Gliedern und machte ihre Schritte leicht. Sie kletterte über moosiges Wurzelgeflecht und erreichte die Straße. Es nieselte. Hel spürte die Tropfen wie Fingerspitzen an den Wangen. Sie legte den Kopf in den Nacken und streifte sich die Augenklappe ganz ab. Ein paar Regentropfen enthielten Magie. Auf ihrem Weg zur Erde tanzten sie, kaum heller als Funken, in trägen Runden umeinander, als wüssten sie, dass sie bald Abschied nehmen mussten. Auf dem Boden würden sie ihr Leben verlieren und versinken wie jeder andere Wassertropfen. Einer der Funken landete kühl auf Hels Handrücken und verschmolz mit ihrem Licht.

Dann sah Hel etwas hinter dem schwach magischen Dickicht. Es war wie ein blinder Fleck in ihrer Sicht. Ein Fleck Nichts.

Stockend setzte sie sich in Bewegung. Die Straße fiel ab und machte eine Biegung. Die Bäume öffneten sich. Eine Handvoll Höfe unter tief hängenden Dächern umstanden einen See. Die Zedern erhoben sich wie Türme ringsum und tauchten alles in ihre Schatten. Hel erstarrte.

Das Dorf war ohne Lichter. Nicht ein Funken Leben.

Sie rannte zurück. Es wurde dunkel, die Bäume graue Schemen vor einem schwindenden Himmel. Keuchend stolperte sie über das Wurzelgeflecht und fiel geradewegs in die Arme von Berano. Die Söldner waren dabei, ihre Bogen zu spannen, um auf Jagd zu gehen.

»Es ist da«, japste sie atemlos. »Das Dorf – das tote Dorf, Naruhl, es ist da!«

Olowain sprang auf. »Hier?«

Sie deutete zur Straße. »Ich war da, ich hab es gesehen.«

Fassungslos schüttelte der Magier den Kopf. »Wir sind am Rand der Gebirge. Ich dachte, Naruhl liegt weiter im Westen. Zeig uns den Weg!«

In Windeseile hatten sie zusammengepackt und waren zurück auf der Straße. Olowain ging mit leuchtendem Stab voran. Er holte so weit mit seinen Schritten aus, dass Hel fast laufen musste, um mit ihm mitzuhalten. Sie hatte den Silberling wieder aus ihrer Augenklappe genommen. Als sie den lichtlosen Fleck hinter den Bäumen auftauchen sah, blieben sie stehen. Der Wind zog die Regentropfen in feine Strähnen.

Hel starrte hinab. Es war wirklich nichts am Leben. Im See kein Tier, im Boden keine wachsende Pflanze. Selbst in den ausgebeuteten Gegenden der Wüste hatte sie nie so etwas erlebt – wenigstens Tiere hatte es immer gegeben. Aber das hier war ein Dorf, von Menschenhand erbaut, es war unmöglich, dass hier kein Licht war.

»Das ist nicht Naruhl«, sagte Olowain leise. »Die Häuser sind bewohnt. Wie kommst du darauf, dass das Naruhl sein könnte?«

Hel biss sich auf die Unterlippe. »Es gibt kein Leben.« Sie merkte, dass die anderen beunruhigte Blicke austauschten, aber sie wollte nicht weitersprechen.

»Da unten wohnt niemand?«, fragte Arill ungläubig.

Hel schüttelte den Kopf, korrigierte sich aber dann: »Das weiß ich nicht. Aber jetzt ist nichts Lebendiges da.« Beim Himmel, nicht einmal ein Grashalm.

»Vielleicht ist es eine Falle.« Arill legte die Hand auf seinen Schwertgriff. »Wenn das Naruhl ist, haben die Rebellen uns vielleicht kommen sehen. Hel, lauert uns jemand auf?«

Hel drehte sich einmal im Kreis, obwohl sie wusste, dass niemand da war. Sie schüttelte den Kopf.

»Dann sollten wir hingehen«, schlug Harlem vor, »und einen Blick in die Häuser werfen.«

Hel öffnete zögernd den Mund. Alle sahen sie an. »Könntet Ihr erst Lirium ins Dorf feuern, Meister Olowain?«

Der Magier befühlte seinen Stab. »Was meinst du, einen Angriff? Ich dachte, da ist niemand.«

»Zielt einfach auf den Boden. Dann kann ich sehen, ob ... ob da etwas ist, das Leben aufsaugt.« Die Worte ließen sie selbst schaudern – auch Nova trat nervös von einem Fuß auf den anderen. Olowain zog die Stirn kraus, stellte aber keine Fragen und streckte den Stab aus. Blaues Licht schoss aus der Spitze und schwebte wie eine leuchtende Seifenblase ins Dorf hinab. Es landete auf einem Hausdach, kullerte durch das Stroh und fiel zu Boden, wo es noch eine Weile vor sich hinglomm, ehe es blinzelnd erlosch. Hel atmete auf. »Gut. Ich glaube, wir können näher rangehen.«

Langsam schritten sie auf die Hütten zu.

»Seht mal, das Moos«, murmelte einer der Söldner. Hel blickte hinunter – die Pflanzen am Wegrand hatten eine merkwürdig aschene Farbe, weder vertrocknet noch verbrannt, aber eindeutig welk. Olowain streifte die toten Pflanzen mit dem Fuß und brummte nachdenklich.

Sie gingen an den Hütten vorbei. Manche Fenster standen offen. Ein Vorhang war nach draußen geweht und tropfte vor Nässe. Relis zuckte neben Hel zusammen, als eine Haustür quietschte; sie war nur angelehnt und bewegte sich mit jedem Luftzug. Dann tauchte ein abgezäunter Garten auf. Verwelkte Brennnesseln knisterten im Regen. Die Gefährten blieben stehen.

Auf der Erde lagen tote Hühner. Drei, fünf, nein, acht ... ein ganzes Dutzend.

Olowain schob das Gatter auf und trat näher. Die Tiere blickten mit kleinen schwarzen Augen ins Leere. Hel sah kein Blut, keine Verletzungen; sie schienen nicht mit dem Tod gerungen zu haben.

Hinter dem Garten war eine Haustür. Olowain schob sie mit seinem Stab auf. Ein dunkler Flur erschien vor ihnen. Das Licht des Stabes wurde kräftiger, als Olowain eintrat, und überzog die Wände mit einer unheimlichen Blässe. Hel musste sich einen Ruck geben, um dem Magier ins Haus zu folgen. Die Holzdielen knarzten unter ihren Schritten, entlockten dem Haus trappelnde Echos.

Sie kamen in eine Stube. Olowain blieb stehen; Hel sah seine Schultern zucken, dann drehte er sich abrupt um und kehrte in den Gang zurück.

»Raus«, krächzte er.

»Was ist?« Arill schob sich vorbei und trat ein. Hel folgte ihm.

Menschen saßen am Tisch. Der Kopf eines Mannes lag in einer Schüssel. Eine alte Frau war halb aus ihrem Webstuhl gerutscht und lag mit hängenden Armen in der Ecke, ihr Kiefer nach unten geklappt; es sah aus, als würde sie lautlos schreien.

Hel schlug sich beide Hände vor den Mund.

Gondurill

Wie versteinert starrten sie die Toten an. Hel spürte Novas Keuchen im Nacken. Kein Blut, keine Wunden waren zu sehen. Als wären sie alle im selben Augenblick eingeschlafen.

»Was ...?« Arills Stimme brach ab. Mit gezogenem Schwert kam er näher. Ein Kind saß auf dem Schoß des Mannes, dessen Kopf in der Schüssel hing. Es war seitlich aus seinen Armen gerutscht wie eine Stoffpuppe mit gespreizten Händen. Hel zitterte, als sie die Augen sah. Sie waren völlig grau, wie beschlagenes Glas.

»Bei allen ... allen guten Geistern«, hauchte Arill. Seine Hände umklammerten das Schwert so fest, dass der Ledergriff knirschte.

»Raus hier!« Olowains Stimme schien aus weiter Ferne zu kommen; als Hel sich umdrehte, floh der Magier bereits aus der Haustür. Betäubt liefen sie ihm nach. Nova stieß ein Ächzen aus, als er über ein totes Huhn stolperte – Hel erschrak so sehr, dass sie aufschrie, woraufhin die Söldner mit ihren Waffen herumfuhren. Für einen Augenblick herrschte panisches Durcheinander. Als alle merkten, dass keine Gefahr drohte, stand ihnen Schweiß auf der Stirn. Quietschend fiel das Gatter hinter ihnen zu. Olowain blieb stehen und schluckte mehrere Male.