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Hel wusste nicht, was sie sagen sollte. Fast bereute sie, Gharra von dem Aufblitzen erzählt zu haben. Vielleicht hatte sie es sich tatsächlich nur eingebildet! So oder so würde er enttäuscht sein, denn ein Sturm braute sich gewiss nicht zusammen. Hätte sie doch einfach gar nichts gesagt ... Weil sie nicht tatenlos auf die schlechte Nachricht warten wollte, die Tix ohne Zweifel bringen würde, zündete sie den Kerzenständer und die beiden Bettlaternen an. So konnten sie wenigstens das Lirium der Leuchtkugel sparen. Hel reckte sich nach dem honigfarbenen Ball, der bis jetzt reglos an der Zimmerdecke geschwebt hatte, und sein weiches Licht erlosch in ihrer Hand. Ihr war, als würde etwas im Raum sterben. Allein das Kerzenflackern hielt die Dunkelheit in den Ecken, bedrohliche Schatten balgten sich plötzlich hinter den Möbeln. Hel behagte der Flammenschein nicht, zu sehr erinnerte er sie an Verarmung, an Trostlosigkeit und das Verschwinden der Stürme. Sie konnte sich kaum vorstellen, dass die Menschen früher nur Feuer gehabt hatten, bevor die Sturmjagd erfunden worden war. Wehmütig legte sie die Leuchtkugel auf den Schreibtisch. In einer Welt ohne Magie wollte sie niemals leben. Hoffentlich war sie tot, bevor Lirium ganz aufgebraucht war.

Als hätte Gharra ihren Stimmungswechsel gespürt, schenkte er ihr ein aufmunterndes Lächeln. »Du bist so schnell groß geworden. So klein warst du mal, und es kommt mir wie gestern vor!« Er hob die Hände, um ihre einstige Größe darzustellen. Demnach hatte sie einmal in seinen Stiefel gepasst.

Gharra tat oft so, als wäre sie schon immer auf der Schwalbe gewesen. Weil sie nie widersprach, dachte er wohl, sie hätte den Tag vergessen, an dem er sie den Zwergen abgekauft hatte. Doch sie erinnerte sich daran. Sie erinnerte sich an fast alles. Aber die Lügen, die Gharra ihr zuliebe erfand, rührten sie.

»So schnell verfliegt die Zeit. Andererseits ... ich kann mich nicht erinnern, was wir früher ohne dich gemacht haben. Seit du dein erstes Wort gesprochen hast – und das war hier in diesem Raum, weißt du noch? Was hast du doch gesagt? Ich glaube, es war ›Sturm‹ oder ›Jäger‹, oder, ach nein, ›Kapitän‹ hast du gesagt! Haha, ›Kapitän‹, das war dein erstes Wort ... Jedenfalls entdeckst du seitdem fast alle Stürme. Trotz der schwierigen Zeiten hat die Schwalbe immer gute Erträge gebracht. Im ganzen Land werden Schiffe eingezogen und Sturmjäger entlassen, aber uns zählt die Magierschaft zu den besten der Liga. Bevor die Schwalbe für immer nach Aradon muss, fressen alle Magier ihre Roben. Wenn nur noch ein einziges Schiff auf Sturmjagd geht, dann ist es die Schwalbe!« Gharra hatte die Faust bedeutungsvoll erhoben und senkte sie nun, um auf Hel zu weisen. »Und das ist dir zu verdanken, mein süßes Monsterkind.«

»Du hast auch schon ohne mich zu den besten Sturmjägern der Liga gehört«, erwiderte Hel, die solches Lob immer ein wenig befangen machte – auch wenn keine Mannschaft da war, um sie mit neidischen Blicken zu bejubeln.

Gharra betrachtete sie liebevoll. Seine Augen waren wie Murmeln, trüb und feucht, und er blinzelte, als müsse er die Müdigkeit noch ein letztes Mal verscheuchen, ehe sie ihn endgültig in die Dämmerung zog. »Wie du trotz meiner Erziehung so bescheiden sein kannst, ist mir ein Rätsel«, murmelte er. »Vielleicht liegt es daran, dass du verunstaltet bist. Ja, wenn überhaupt ein Mensch mit deiner Gabe bescheiden bleiben kann, dann wohl ein Mädchen ohne Eitelkeit. Wegen deinem Auge wirst du nie für den Hochmut anfällig sein, der mit der Schönheit einhergeht. So ist die Welt doch gerecht. – Sei nicht betrübt, mein Goldstück!«

»Bin ich nicht«, entgegnete sie ein bisschen zu nachdrücklich. Hel lächelte kühl. »Ich bin ganz zufrieden mit dem, was ich habe.«

Gharra lehnte sich zurück. »Eben, eben ... du warst sowieso immer anders. Etwas Besonderes. Eine Familie und irgendwann auf dem Boden leben, wäre nichts für dich, der Himmel ist dein Zuhause.«

Hel merkte, dass sie auf ihrer Lippe kaute, und hörte auf. »Wir beide sind echte Sturmjäger. Du warst auch nie länger auf dem Boden als nötig!«

Gharra lächelte. »Oh, oh doch ... vor langer Zeit. Ich schätze, jeder versucht es mal mit einer Familie. Aber für mich war das nichts. Ja, wir beide sind echte Sturmjäger!«

Etwas in Hels Schultern vereiste und fiel schwer in ihre Magengrube. »Du hast eine Familie?«, stotterte sie.

»Ich habe es versucht.« Gharra schloss beide Hände um das Medaillon mit dem Pixieherzen und räusperte sich. »Und der Versuch ist misslungen. Du wirst denselben Fehler nicht begehen, mein süßes Monsterkind, ich habe dir schon alles vorgelebt. Nein, du sollst in der Luft bleiben, wo du hingehörst, so lange, bis der letzte Funke Magie am Horizont erlischt.« Er streckte die Hand nach ihr aus und zog sie vor sich. Mit einem zitternden Lächeln legte er das Medaillon in ihre Faust. »Nach mir, Hel, sollst du Kapitän der Schwalbe sein.«

Hel war sprachlos. Wie erstarrt stand sie da, in einer Hand das Pixieherz, in der anderen ihren Weinkelch. »Aber ...« Sie musste schlucken. »Du bist doch ...«

Gharra winkte ab. »Nein, ich bin noch nicht senil. Aber glaubst du, ich höre meine eigenen Knochen nicht ächzen? Ich kratze bald ab. Wird ja auch Zeit. Und dann will ich, dass du dich um die Schwalbe kümmerst.«

Sie konnte nur den Kopf schütteln. Sie, Kapitän des Schiffs? Der Mannschaft? Sie, Hel, das Kind, die Halbblinde? Gharra hatte wohl längst die Wirklichkeit aus den Augen verloren. So ruhig wie möglich erwiderte sie: »Nur wegen der zweiten Sicht bin ich noch lange nicht geeignet, Kapitän zu werden.«

»Finde ich auch.« Gharra nickte und griff nach seinem Kelch. Nachdenklich beobachtete er, wie der Wein im Kerzenschein leuchtete. »Ein Kapitän muss vor allem pflichtbewusst und entschlossen sein. Nun gut ... eine imposante Erscheinung ist auch nicht hinderlich und ein gepflegtes Äußeres hat nie jemandem geschadet. Allerdings ist das alles Hühnerkacke, wenn er nicht ein gewisses diplomatisches Geschick besitzt.« Mit einem vielsagenden Blick nippte Gharra an seinem Wein.

Hel lächelte gequält. Wahrscheinlich meinte er damit, dass sie sich seltener betrank und stritt als alle anderen Sturmjäger auf der Schwalbe. Das lag aber nur daran, dass man sie nicht ernst nahm, beschwipst noch weniger als nüchtern.

»Ich bin dir dankbar, Gharra«, murmelte sie. »Für alles, und dass du mir so viel zutraust. Aber ich kann mir kaum vorstellen, dass Orriw und die anderen ...«

»Orriw?«, schnaubte Gharra. »Mit Diplomatie meine ich nicht, dass du süße Worte mit den Sturmjägern wechselst. Wenn einer der Männer dir nicht den gebührenden Respekt erweist, gibt es zurzeit genug andere Sturmjäger, die dir die Stiefel küssen würden, wenn du sie auf der Schwalbe anheuerst! Nein, um die Mannschaft musst du dir keine Sorgen machen. Sie werden dich achten. Vorsichtig musst du nur mit der Magierschaft sein. Du weißt ja ... wie viele Schiffe eingezogen werden. Und es zählt längst nicht immer die Fähigkeit eines Kapitäns. Sondern auch seine Freundlichkeit den Magiern gegenüber. Darum wirst du die Schwalbe erben. Du und nicht Orriw oder sonst einer von den ehrenhaften Helden, die nicht wissen, dass auch Gehorsam manchmal ein Zeichen von Schläue ist.«

Hel antwortete nicht. Was sollte sie sagen? Natürlich war sie immer für ihre Gabe gelobt worden, aber wirklich etwas zugetraut hatte man ihr nie. Sie war viel zu nett und rücksichtsvoll, um irgendwem Befehle zu erteilen – noch dazu Jägern, die viel älter waren als sie! Doch nun war es gerade ihre Freundlichkeit, die Gharra überzeugte.

»Die Entscheidung eilt ja nicht«, wich sie aus.

»Och, man weiß nie – vielleicht rutsche ich aus, wenn ich mich gleich da rüber ins Bett begebe. Oder ich sauf mich zu Tode an diesem köstlichen Tropfen. Apropos, sieh mal nach, ob noch eine Flasche unter dem Fenster steht, gleich hinter dem Tisch.«