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Sie kamen in einen Tunnel, der so hoch war, dass ihr Licht die Decke nicht erreichte. In scheinbar endlosen Spiralen führte der Weg in die Tiefe. Dann, endlich, erschien am Ende des Weges ein Schimmer Helligkeit und Geräusche spülten heran. Ein runder Durchgang entließ sie auf einen Balkon, der sich über eine gigantische Stadt beugte.

Hel blieb die Luft weg. Im dämmrigen Schein der Leuchtkugeln ließ sich das Ausmaß der Bauten kaum erkennen. Bis in die Ferne waren die Felsen von Höhlen und Licht durchsetzt; Treppen waren in den Boden gehauen, und Türme und Häuser entwuchsen der Tiefe, als hätte die Erde von sich aus beschlossen, eine Stadt zu formen. Überall ragten Vorsprünge aus den Wänden, manche nur kleine Terrassen, andere so riesig, dass darauf ganze Stadtviertel lagen. Unauffällig zog Hel den Silberling aus ihrem Beutel und schob ihn in die Augenklappe zurück.

König Moradin stieg von seinem Keilpferd. Hel war so von der Aussicht abgelenkt gewesen, dass sie die Diener gar nicht bemerkt hatte. Mehrere Zwerge in dunklen Wämsern nahmen sich der Tiere an und führten sie weg.

»Wir haben eine Abkürzung in den Palast genommen«, erklärte Moradin und wies hinter sich. Die Felsen waren ausgehöhlt wie Bienenwaben und leuchteten von innen heraus. »Der Weg durch die Stadt ist interessant, doch für Menschen unbequem. Ihr hättet euch nur den Kopf angestoßen.« Lächelnd bedeutete er ihnen, ihm durch einen gewölbten Eingang zu folgen. Sie schritten durch eine dunkle Halle. Diener kamen und wollten dem König Umhang und Rüstung abnehmen, doch er scheuchte sie fort. Es ging eine lange Spiraltreppe hinab, die in den Palast und wieder hinaus führte und einen Blick auf die Stadt bot. Sie mündete in einen Flur, der zur Brücke wurde. Hohe Statuen bewachten den Übergang mit Schild und Schwert. Hel sah zu den steinernen Gesichtern auf und fühlte sich, als würden die Könige der Vergangenheit sie durch die Monumente beobachten.

Dann betraten sie ein lichterfülltes Gewölbe, das vor Stimmen summte. In hohen, von Fenstern durchsetzten Räumen sah Hel Gestalten auf Lagern ruhen. Zwergische Heiler eilten umher. Es roch nach Kräutermedizin, Alkohol und warmer Baumwolle. Irgendwo weinten Kinder. Isen saßen auf Strohmatten beieinander – direkt daneben schliefen Menschen. Die Not hatte sie alle vereint.

König Moradin hielt einen Heiler an. Der Zwerg verneigte sich hastig, als er den König erkannte. »Kümmere dich um den Isen«, befahl er und schob den Heiler auf Kelda zu. Dann wandte er sich an Olowain, der sich angesichts der vielen Isen vorsichtshalber die Kapuze über das weiße Haar gezogen hatte. Sein Stab war wieder zum knotigen Wanderstock geworden. König Moradin fixierte ihn misstrauisch. »Wenn Ihr ruhen wollt, kann ich Euch Lager in Eurer Größe anbieten. Allerdings dürft Ihr Euch nicht daran stören, neben Bauern und Isen zu liegen.«

»Danke, wir sind nicht müde«, erwiderte Olowain. »Wenn Ihr erlaubt, würde ich lieber die Dorfbewohner kennenlernen, die den Angriff überlebt haben.«

Moradin nickte langsam. »Viele von ihnen stehen unter Schock. Ich bin sicher, dass Ihr sie mit Respekt und Rücksicht behandelt werdet.«

Olowain nickte. »Dessen seid versichert, Hoheit.«

Der König brummte leise. Mit einem Wink gab er dem Heiler zu verstehen, dass er sich mit Kelda entfernen sollte. Kelda warf Olowain einen fragenden Blick zu; der Magier nickte flüchtig. »Wir werden nachher zu dir kommen.«

Nachdem der Heiler mit dem Isen durch ein Portal verschwunden war, drehte König Moradin sich um und brachte die Gesandten in eine Halle mit gedämpften Lichtern. Hel sah Familien zusammensitzen und aus hölzernen Schüsseln essen. In den Schatten wimmerten Verwundete und schlafende Gestalten. Die meisten waren Isen. Als sie den Zwergenkönig erkannten, erhoben sich manche und verneigten sich, andere murmelten leise Segen und legten die Stirn auf die Erde. Vor einer Gruppe dösender und schlafender Menschen blieb König Moradin stehen und wartete, bis die ringsum Sitzenden die Schläfer anstupsten. Überrascht richteten sich die Menschen auf. Eine alte Frau küsste dem König die Hand.

»Jemand möchte mit euch über den Dämon sprechen«, sagte König Moradin sanft. »Wollt ihr seine Fragen hören?«

Die alte Frau blinzelte die Gefährten an. Dann nickte sie. König Moradin wandte sich zu Olowain um. »Später werden wir gemeinsam speisen ... und in Ruhe darüber sprechen, was das Ziel Eurer Reise ist.« Er gab sich keine Mühe, den Argwohn in seiner Stimme zu verbergen.

Olowain lächelte gelassen. »Ich danke Euch, Hoheit. Und ich freue mich auf das Gespräch.«

Nachdem der König ihnen reihum noch einen strengen Blick zugeworfen hatte, machte er kehrt und verließ den Raum, eine Schleppe aus Seufzern und Dankesworten hinter sich herziehend.

Die Kunst der Zwerge

Olowain kniete sich vor den Flüchtlingen nieder. Auch die anderen Gesandten setzten sich auf die Matten, die den Boden bedeckten. Hel spürte aus allen Richtungen Blicke auf sich, und ihr war, als sei es stiller geworden.

»Wir sind auf der Suche nach ... dem Dämon«, sagte Olowain. »Könntest du erzählen, was du über ihn weißt?«

Die alte Frau gab einen hauchenden Laut von sich, halb Lachen, halb Schluchzen. »Ihr seid einer von den Kopfgeldjägern! Narren ...« Sie ließ sich zur Seite sinken und schob den Arm unter ihren Kopf. »Verfolgt ihn nicht mehr. Egal wie dringend Ihr das Geld braucht. Keiner kann ihn töten.«

»Wir sind keine Kopfgeldjäger«, erklärte Olowain leise. »Wir sind nicht hinter Geld her. Wir sind beauftragt, die Wahrheit aufzudecken.«

»So?«, murmelte die Alte. »Nun, seid ihr bereit, die Wahrheit zu glauben? Wenn ich nicht mit meinen eigenen Augen gesehen hätte, was passiert ist, ich würde es nicht glauben.«

Olowain legte den Kopf schief, um der Alten besser in die Augen blicken zu können. »Ich weiß, dass die Wahrheit so viele Gesichter hat wie Augen, die sie beobachten. Ich werde dir glauben, dass du uns deine ganz eigene Wahrheit sagst, gute Frau.«

Sie lächelte müde. »Er hat alle getötet. Meine drei Söhne. Meine einzige Tochter. Meine Enkelkinder, alle sieben. Meine Schwiegertochter und ihr ungeborenes Kind. Ich dachte immer, ich würde im Kreis meiner Lieben sterben. Als ich in unser Haus zurückkehrte, war ich die einzige Lebende, umringt von Toten. Aber warum wollt Ihr das hören? Es ist die traurige Geschichte einer alten Frau, wer will so etwas hören.«

»Was dir zugestoßen ist, tut mir aus tiefstem Herzen leid.« Olowain klang ehrlich ergriffen. »Wie hast du überlebt?«

»Ich war am Fluss. Meine Knochen sind alt, doch ich halte sie in Bewegung. Ich habe mein Leben lang die Wäsche am Fluss gewaschen. Was haben meine Kinder von mir, wenn ich nicht wenigstens für saubere Kleider sorgen kann? Ich stand im Wasser, als ich plötzlich ... diesen Schmerz fühlte ...« Ihre zitternde Hand begann, über ihre Rippen zu tasten, als suche sie nach einer Wunde. »Der Schmerz hat mich seitdem nicht verlassen. Als würde alle Lebenskraft aus mir herausgesaugt. Ich brach am Ufer zusammen. Wäre ich ein Stück weiter im Wasser gewesen, hätte die Strömung mich fortgetragen. Dann wäre ich gestorben, ohne je erfahren zu müssen, was aus ihnen geworden ist.« Ihre Stimme wurde immer heller, bis sie fast wie die eines Kindes klang. Dicke, glasige Tränen liefen ihr aus den Augen, die gar nichts mit ihr zu tun zu haben schienen. Hel hatte noch nie jemand so alten weinen gesehen, und es berührte sie mehr als bei irgendwem sonst. Der Schmerz, der einen Menschen mit einem ganzen Leben hinter sich noch zum Wimmern bringen konnte, musste zerschmetternd sein.

Die Frau bewegte fiebrig den Kopf, doch als Olowain ihre Hand nahm, fuhr sie mit ihrer Erzählung fort. »Es war schon dunkel, als ich aufwachte. Ich habe mich nie im Leben so schwach gefühlt. Es dauerte sehr lange, bis ich den Weg zum Dorf zurückfand. Kein Licht brannte. Die Obstbäume waren verdorrt. All die schönen Früchte. Die Kinder hatten sich so darauf gefreut. Überall lagen sie. Ich dachte, sie wären eingeschlafen. So sah es aus ... in der Stube, meine kleine Raiha, ihre Hand lag im Ofen. Sie war ganz verbrannt.« Ihre Worte verloren sich wieder in einem hellen Schluchzen. Olowain drückte hilflos ihre Hand.