Выбрать главу

»Aber ... du hast den Dämon nicht gesehen?«

Die Alte weinte jetzt stumm, ohne Antwort zu geben. Hinter ihr regte sich ein Junge und rutschte aus den Schatten. Sein Gesicht verschwand fast ganz unter Asche, Staub und Tränen; die Augen wirkten darin erschreckend hell.

»Ich hab es gesehen«, sagte er mit bebender Stimme. Hel vermutete, dass er ihr Gespräch belauscht und schon lange überlegt hatte, etwas zu sagen. »Ich hab es gesehen«, wiederholte er. »Es ist ...«

»Es?« Olowain runzelte die Stirn.

Der Junge starrte ihm fest in die Augen. »Es ist ein Kind. Der Dämon steckt in dem Körper eines Kindes.« Er schwieg und betrachtete den Schreck in ihren Gesichtern aufmerksam, als sei er nicht sicher, ob sie ihn verstanden. »Es ist aus dem Wald gekommen. Ich war mit meinem Bruder oben bei den Klippen und habe es lachen gehört. Das Lachen klang wie von einem Kind. Und alle sind ... alles ist gestorben. Wir konnten es nicht genau erkennen. Es trug fremdartige Kleider. Einen Umhang mit einer Kapuze.«

Hel spürte, dass ihr etwas die Luft abschnürte. Sie sank in sich zusammen, sank ein wie eine Leuchtkugel, wenn alles Lirium verbraucht ist und nichts bleibt als ein schlaffes Lederstück.

»Hel? Alles in Ordnung?«, fragte Nova. Ihr gelang ein fahriges Nicken. Rasch stand sie auf. Alles drehte sich.

»Ähm, ich, ich seh mal nach Kelda. Bis gleich.« Hastig bog sie um die Ecke. Fast stolperte sie über ein paar schlafende Gestalten. Sie musste sich gegen die Wand fallen lassen, um nicht auf ein verbundenes Bein zu steigen. Schwer atmend hielt sie sich einen Moment am Stein fest. Ihr Herz pochte.

Mercurin. Sie konnte immer nur seinen Namen wiederholen, ein nicht verklingendes Echo in ihrem Kopf. Er konnte es nicht sein. Er konnte es nicht sein. Er war kein ...

In der Windigen Stadt. Das Chaos, die wilde Magie. All seine magischen Kunststücke.

Himmel noch mal, seine Stimme! Seine Stimme hatte sich immer verändert, war tief gewesen wie von einem erwachsenen Mann, und dann ... wenn er gelacht hatte ...

Sie presste die Augen zu, als könne sie so die Bilder verdrängen. Vergeblich. Sie sah ihn deutlicher vor sich denn je, sein stilles, ernstes Gesicht, die Art, wie er sich bewegte, so entschlossen und unauffällig, als wäre jede Geste genau durchdacht und nicht ein Wimpernzucken ohne Absicht. Konnte er es tatsächlich sein? Sie fragte ihre Erinnerung: War Mercurin, bist du schuld?

Er aber schwieg und breitete wieder und wieder seinen Umhang über ihre Schultern, damit sie in der kalten Wüstennacht nicht fror.

Ziellos schlich Hel durch die Gewölbe, nur um nicht stehen bleiben und nachdenken zu müssen. Sie sah die Verwundeten, die sich im Halbschlaf wälzten, und Heiler, die hinter weißen Vorhängen oder vor aller Augen Wunden behandelten. Ein paar Leute weinten still vor sich hin. Die meisten waren Isen. Aber immer wenn Hel in der Menge einen Menschen sah, der dumpf vor sich hinstarrte, musste sie an den Dämon denken ... wie viele hatten eine Begegnung mit ihm überlebt?

Dann hörte sie ihren Namen und wandte sich um. Kelda erhob sich von einer Matte. Sein Arm war verbunden und steckte in einer Schlaufe. »Wo sind die anderen?«

Hel deutete hinter sich, merkte aber dann, dass sie längst nicht mehr wusste, aus welcher Richtung sie gekommen war. »Sie befragen noch die Leute, die den Dämon gesehen haben.« Sie gab sich einen Ruck und wechselte das Thema. »Wie geht es dir?«

Obwohl sie sich um eine gleichgültige Miene bemühte, hatte sie den Verdacht, dass Kelda sie durchschaute. Aber auch er rang ganz offensichtlich darum, sich seine Schmerzen nicht anmerken zu lassen. So sahen sie sich an, die Wahrheit im Gesicht wie auf blanken Tellern. Langsam ließ sie sich vor ihm nieder und kreuzte die Beine.

»Sie haben mir eine Knolle zum Kauen gegeben, die mich betäuben soll. Meinen Arm spür ich noch, aber meine Zunge ist ein bisschen taub.« Er lächelte mit geschlossenen Lippen. Hel war schon aufgefallen, dass er nie offen lächelte. Vielleicht, um niemanden mit seinen spitzen Zähnen zu erschrecken.

»Und der Bruch? Was hat der Heiler gesagt?«

»Dass ich nicht hätte reiten sollen. Ich hätte mir vielleicht auch den Arm nicht brechen sollen. Nun ja ... Wenn ich Glück habe, bleibt er nicht für immer steif.«

Hel starrte ihn an. »Hoffentlich nicht!«

»Was sagen die Dorfbewohner?«, fragte er fast im selben Atemzug. »Ist der Dämon eine rachsüchtige Isin?«

»Nein ...« Sie räusperte sich. »Nein, sie sagen, der Dämon ist ... ein Kind.«

Kelda stieß ein so tiefes Seufzen aus, dass Hel aufsah. Sofort hatte der Ise sich wieder im Griff und wirkte unergründlich wie immer. »Ein Kind? Das wird der Magierschaft ziemlich unglaubwürdig erscheinen.«

»Ist nicht die ganze Geschichte unglaubwürdig? Die Wahrheit ist nicht immer leicht zu glauben.« Hel fühlte, wie er sie beobachtete.

»Das stimmt«, sagte er endlich. »Aber darum hat uns die Magierschaft nicht ausgesandt.«

Sie sah ihn verständnislos an. Kaum merklich beugte er sich vor und senkte die Stimme. »Hel ... niemand will die Wahrheit. Man will einen Feind, der greifbar ist, bekämpft und besiegt werden kann. Wir sind hier, um den Feind beim Namen zu nennen. Du verstehst doch ...« Er nickte ihr langsam zu.

Ehe Hel etwas erwidern konnte, hörte sie Schritte hinter sich. Ein zwergischer Diener tauchte auf und neigte den Kopf. »Seine Majestät der König erwartet Euch zum Mitternachtsmahl. Wenn Ihr mir folgen mögt.«

Hel wollte Kelda helfen, doch er stand alleine auf. Sie suchte seinen Blick, aber er wich ihr aus; es war, als hätten sich die Fenster in seinen Augen wieder verschlossen. Schweigend folgten sie dem Zwerg.

Am Eingang der Gewölbe warteten die Gefährten bereits auf sie. Sorge umwölkte ihre Mienen, doch während es nicht schwer zu erraten war, dass alle anderen an den Dämon dachten, schien Novas Besorgnis Hel zu gelten. Er trat neben sie und öffnete den Mund, fand aber dann die passende Frage nicht und wartete darauf, dass sie von sich aus erklärte, warum sie davongelaufen war. Hel tat, als würde sie es nicht merken. Sie wusste ja auch nicht, was sie sagen sollte. Nein – sie wusste es: Sie sollte gar nichts sagen.

Der Diener brachte sie denselben Weg zurück, den sie gekommen waren. In der großen Halle brannte nun ein Kaminfeuer und ließ sie die Reliefs an den Wänden erkennen. Kunstvolle Gestalten verbargen sich im Stein, wiesen mit Händen zur Decke oder hoben unheilvoll ihre Klingen. Nicht alle von ihnen waren Zwerge – auch geisterhafte Wesen mit flammendem Haar schwebten hier und da, halb Bäume oder Vögel ... König Moradin saß an der Tafel und breitete die Arme aus. »Setzt Euch! Leider hat die Zeit gefehlt, Gerichte aus Eurer Küche zuzubereiten. Ich hoffe, es mundet Euch trotzdem.«

Bevor jemand versichern konnte, dass sie die zwergische Kochkunst hoch schätzten, hob der König die Glocke von einem Teller und offenbarte einen riesigen Berg Eier in verschiedenen Größen und Musterungen.

»Aber ihr Menschen esst Eier! Ich habe alle Sorten bringen lassen, die es gab.« Er wies auf einen großen Krug. »Es gibt auch Honig dazu.« Erwartungsvoll zog er die Augenbrauen hoch.

»Äh, sehr aufmerksam. Vielen Dank, Euer Hoheit«, erwiderte Olowain.

Zufrieden ließ der König sich auf seinen Thron zurücksinken und wies den Diener an, ihre Teller zu beladen. Hel wurde genötigt, sich für zwei Eier zu entscheiden, und wählte ein kleines braunes und ein noch kleineres blaues. Sie hatte gehofft, wenigstens mit dem braunen ein Hühnerei zu erwischen, doch bei genauerer Betrachtung stellte es sich dafür als zu länglich heraus.