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Am Ende des Ganges führte Harlem sie durch einen niedrigen Torbogen, über dem in krakeliger Schrift stand: MENSCHENESSEN. Sie traten durch einen muffigen Samtvorhang und kamen in ein mehrstöckiges Haus voller Treppen. Leuchtkugeln schwebten hier und da und ließen Gestalten erkennen, die auf gepolsterten Matten saßen und von niedrigen Tischen aßen. Ein paar Zwerge waren da. Allerdings schienen sie weniger des Essens wegen hier zu sein als wegen der Menschen, mit denen sie geheimnisvolle Beutel und weniger geheimnisvolle Geldsäcke unter den Tischen tauschten.

Ein hübsches dunkelhaariges Mädchen begrüßte sie. Nachdem ihr Blick einen Moment auf Nova verweilt hatte, brachte sie sie in eine geräumige Sitzecke mit einem großen Tisch. Die Gesandten ließen sich auf den Polstern nieder.

Das Mädchen zählte ihnen die Speisen auf, die herrlich gewöhnlich klangen: Fladenbrot, Braten, Gemüse, Kirschtörtchen ... außerdem gab es Gänge, die nach verschiedenen Städten, Berufen und reinem Unsinn benannt waren. Hel beschloss, ›Das Henkersmahl des hungrigen Halunken‹ zu probieren, während Nova sich für ›Die fleißige Hausfrau von Kapua‹ entschied. Arill, Caiden, Berano und Relis wählten Menüs mit ähnlichen Namen, nur Harlem begnügte sich mit einem Dunkelbier, da sie schon beim König gegessen hatte und sich, wie sie zwinkernd meinte, nicht den Magen verderben wollte.

Es dauerte nicht lange, da brachte das Mädchen ihre Speisen. Eine ältere Frau, wahrscheinlich ihre Mutter, half ihr beim Tragen. Hungrig machten sie sich ans Essen. Hels Butterfladen war zwar arg trocken und der Braten von einem eigentümlichen zwergischen Gewürz durchzogen, aber sie war zufrieden. Als Nachtisch gab es fast ungenießbar süße Honigwaffeln, und Hel tauschte die Hälfte davon gegen Novas Nussküchlein, die, ob Absicht oder Versehen, salzig schmeckten.

Nach dem Mahl kehrte das Mädchen zurück und fragte, ob sie noch etwas wünschten. Mit melodischer Stimme zählte sie ein paar Weine auf, ehe sie Kelda zuraunte: »Oder eine Isenpfeife mit magischer Beimischung ...«

Kelda horchte auf. »Rauchkraut von den Inseln?«

»Frisch geliefert«, flötete das Mädchen. »Allerfeinste Qualität. Wollt Ihr das Kraut probieren?«

Kelda sah die anderen an. »Ich habe nicht zu hoffen gewagt, in Gondurill Rauchkraut zu finden. Es lindert Schmerzen. Wenn es euch nichts ausmacht ...«

Arill winkte ab. Er hatte schon drei Bierkrüge getrunken und war entspannter, als Hel ihn je erlebt hatte. »Gegen Schmerzen, hm? Da könnte ich auch was vertragen. Ich hab mir den Kopf mindestens achtmal angestoßen auf dem Weg hierher.«

»Dann bringe ich eine Pfeife für den Tisch«, sagte das Mädchen und verschwand, bevor jemand Einwände erheben konnte.

Harlem erhob sich. »Ich muss kurz woanders hin. Aber ich wünsche euch viel Spaß. Nachher hole ich euch ab.«

»Wo gehst du hin?«, fragte Nova verwundert.

Harlems Lächeln wirkte nervös. »Ich werde nur einen Spaziergang machen. Ich bin bald zurück.«

Hel sah ihr nach, bis sie hinter dem Samtvorhang verschwand.

Das Mädchen brachte eine lange Pfeife, ähnlich der, die Ozah gehabt hatte. Dann legte sie zwei Dosen auf den Tisch und zog eine Immerflamme aus der Rocktasche – ein daumengroßes Kästchen zum Feuermachen.

Mit einem Lächeln in die Runde – einem Lächeln, das Nova länger gehörte als den anderen, wie Hel fand – öffnete das Mädchen eine Dose und entnahm ihr ein hellblaues kringeliges Kraut, das stark nach Meer roch. Geübt drückte sie es in den Pfeifenkopf. In der anderen Dose war ein schwarzes, leicht zitterndes Pulver – eine Mischung aus Lirium und etwas, das wie Asche aussah. Mit einem winzigen Silberlöffel gab das Mädchen etwas Pulver über das Kraut, schob die Immerflamme auf und entzündete die Pfeife. Bunte Funken sprangen in die Luft. Dann reichte das Mädchen Kelda die Pfeife. Er nahm einen tiefen Zug, lehnte sich zurück und blies Rauchwölkchen durch die Nase. Dann gab er die Pfeife an Caiden neben ihm weiter.

»Einfach – also einfach dran ziehen?«, fragte der Söldner und kratzte sich die blonden Bartstoppeln. Kelda nickte. Caiden zog an der Pfeife und versuchte, ein Husten zu unterdrücken. Sein Gesicht wurde dunkelrot. Husten musste er trotzdem.

Zögernd wurde die Pfeife probiert und weitergereicht, bis Hel an der Reihe war. Sie erschrak ein wenig, als der Rauch in ihre Lungen strömte. Als sie ausatmete, kribbelte ein weicher Geschmack in ihrem Hals, ein wenig wie Zimt und trockenes, süßes Holz. Nova beobachtete sie aufmerksam. Als sie die Pfeife an ihn weitergab, inhalierte er tiefer, als ihm wahrscheinlich wohl war. Wenn er meinte, irgendwen beeindrucken zu müssen ... Hel ließ sich zurücksinken.

Plötzlich spürte sie ein leichtes Pochen in den Händen und sah an sich hinab. Sie riss den Mund auf: Winzige bunte Funken schimmerten durch ihre Haut! Auch die anderen bemerkten das Leuchten an sich und starrten verwundert. Selbst Kelda runzelte die Stirn. »Was für eine magische Beimischung ist das, die du dazugegeben hast?«, fragte er das Mädchen. Lächelnd schraubte sie die Dosen wieder zu. »Eine besondere Traummischung. Ist hier sehr beliebt.«

»Das ist nicht wie ... normales Rauchkraut«, murmelte Kelda. Hel fühlte sich, als würde sie tiefer und tiefer in die Kissen sinken. Irgendwo schwamm Keldas Stimme, vielleicht schon seit längerer Zeit, vielleicht erst seit gerade eben. Was sagte er? Sie vergaß es immer wieder ... die Worte flogen an ihr vorüber wie Blütenblätter im Wind. Sie versuchte, sie zu fangen.

»Es ist nicht wahr, das alles ... es gibt keine Rebellen. Aber es wird welche geben, wenn die Magierschaft es behauptet. Die Isen sprechen davon, seit Jahren ... seit Anbeginn der Zeit spricht irgendjemand von Rebellion. Sie warten mit finsteren Blicken auf den Moment, in dem sie sich alle gleichzeitig erheben ... aber der Moment ist immer einen Herzschlag entfernt, er wird nie kommen. Vielleicht ... vielleicht mit einem, der weder besonders mutig noch besonders klug ist, nur unglücklich genug, um alles zu riskieren. Er wird einen Stein nach den Türmen Aradons werfen und die Massen hinter ihm stehen mit Waffen auf ...«

Fragen schossen Hel durch den Kopf, so viele Fragen, doch ihre Zunge fühlte sich zu schwer an, um auch nur einen Laut zu formen. Und sie vergaß sowieso gleich ihre Gedanken. Es war anstrengend genug, Kelda zu verstehen. Wie anstrengend, jemanden zu verstehen! Hel fühlte sich, als müsste sie jedes Wort erst vorsichtig zerlegen, untersuchen und wieder zusammensetzen, damit es einen Sinn ergab.

»Die Isen haben nichts mit den Überfällen zu tun ... ich kann es nicht beweisen, aber ... ich werde es beweisen. Vielleicht ... wenn alle Isen vertrieben werden, ändert es nichts daran, dass Lirium verschwinden wird. Und dann geht alles hier unter, alles. Die Menschen beschleunigen den Untergang nur. Der Dämon beschleunigt ihn. All das Lirium, verschwendet, um zu töten ...«

Ja, dachte Hel. Oder vielleicht sagte sie es. Oder jemand anderes sagte es. Ja, so war es, Kelda hatte recht. Aber was konnten sie daran ändern? Niemand konnte etwas daran ändern. Lirium verschwand. Die Zeit war einfach vorüber. Nichts währte für immer, und sie waren die unglücklichen Letzten, die das Ende der Welt erleben mussten. Was danach kam, sie wussten es nicht und wussten es doch: nichts ...

Sie spürte Novas Schulter an ihrer, und plötzlich wurde ihr bewusst, dass sie die ganze Zeit in sein Gesicht blickte. Vielleicht hatte sie aber auch bis jetzt die Augen geschlossen gehabt. Er flüsterte. Sie lauschte angestrengt, denn was er sagte, war nur für sie bestimmt.

»Dieser Händler, der dich in der Wüste gerettet hat ... er ist der Dämon, oder?«

Die Worte fielen und landeten in ihr wie kalte Tropfen.

»Du hast heute ... an ihn gedacht, als der Junge den Dämon beschrieben hat ...«

Sie konnte nicht fassen, dass Nova sie so durchschauen konnte. Ausgerechnet Nova!