Nach der Rast wanderten sie weiter. Felsen in allen Formen wuchsen wie lange Dolche aus der unsichtbaren Höhe über ihnen. Wasser lief hier und da. Im Licht des Zauberstabs zogen die Rinnsale Spinnweben aus Silber in die Tiefe. Manchmal hörten sie das Echo von Tropfen. Doch meistens fiel das Wasser lautlos an ihnen vorüber, und die Stille ließ sie ahnen, wie gigantisch die Dunkelheit sich rings um sie erstreckte.
Dann erklangen merkwürdige Geräusche. Aus weiter Ferne hallte ein Stöhnen, das den Boden unter ihnen zittern ließ. Erschrocken blieb Hel stehen.
»Was ist das?«, stieß Berano aus, eine Hand am Schwertgriff.
Olowain lauschte den Echos nach. »Nichts«, sagte er dann. »Die Felsen sind tot. Es ist nur ein Windzug.«
Sicherheitshalber spähte Hel unter ihrer Augenklappe hervor, aber die Umgebung war dunkel, es gab kein Leben. Trotzdem wurde ihr mulmig bei der Vorstellung, die Felsen könnten erwachen, sich zu regen beginnen und sich verschieben ...
Sie setzten ihren Weg fort, bis Olowain schließlich anhielt und sie sich schlafen legten. Die Müdigkeit bestimmte, wann der Tag zu Ende war und wie lange die Nacht währte. Olowains Stab blieb leuchtend in ihrer Mitte stehen und Hel war froh darüber. Die Finsternis machte sie unruhig. Nur auf der zweiten Sicht war sie dankbar, dass sie kein Licht erspähte; ängstlich behielt sie die Felsen im Blick.
Dreimal legten sie sich schlafen und aßen über die Hälfte des Proviants. Allerdings hatte Hel das Gefühl, dass sie öfter rasteten als einmal am Tag, und auch ihr Schlaf fühlte sich viel kürzer an, höchstens ein paar Stunden.
Ungewohnte Geräusche weckten sie. Als sie die Augen aufschlug, sah sie, dass Nova wach neben ihr lag. In der Nähe platschte Wasser. Mehrere Atemzüge lang horchten sie angestrengt. Es war nicht das übliche Plätschern von Tropfen. Die Geräusche waren viel zu ungleichmäßig.
»Was ist das?«, flüsterte Hel.
»Jemand ist da«, hauchte Nova. Sie starrten sich an. Dann setzten sie sich gleichzeitig auf. Nova zog einen Finger Lirium aus seinem Beutel. Der Schein von Olowains Stab reichte noch aus, um einen kleinen Teich zwischen dem Gestein zu erkennen. Stockend gingen sie hinüber. Hel stieß erleichtert die Luft aus: Es war nur Harlem, die am Wasser kniete und sich die Hände wusch.
»Was machst du da?« Mit einem Seufzen steckte Nova den Finger Lirium zurück.
Harlem drehte sich um. Sie hatte ihre Haare gelöst, und Hel staunte, wie lang sie waren: Die schwarzen krausen Locken reichten fast bis zu den Knien der Zwergin. Sie musste sie gerade eingeölt haben. Nova warf Hel einen schnellen Blick zu und zuckte mit der Nase. Dass die Attentäterin sich um ihr Aussehen kümmerte, brachte sie zum Lächeln.
»Ich benutze Honigwurzelöl«, erklärte Harlem und zückte einen Holzkamm, um die wilden Locken zu bändigen. »Nichts macht kräftigere Haare.«
Hel setzte sich auf einen Felsen und sah zu, wie die Zwergin sich zwei feste Zöpfe flocht.
»Sieht hübsch aus.« Nova räusperte sich.
Die Zwergin hielt inne, um ihn anzufunkeln. Er trat einen kleinen Schritt zurück. »Es macht kräftige Haare. Nicht hübsche Haare!«
Harlem fuhr mit dem Flechten fort. Nach einer Weile brummte sie: »Echtes Honigwurzelöl gibt es nur in Gondurill. Überall sonst wird bloß gemischte Soße verkauft. So – stark wie Draht!« Sie prüfte den Zopf und zog kräftig daran. Offensichtlich zufrieden zwinkerte sie Hel und Nova zu. »Mit solchen Haaren kann man jeden erdrosseln.«
Starr sahen sie zu, wie Harlem eine Schlinge formte und dann rasch eindrehte und am Kopf feststeckte. Hel schüttelte die Bilder ab, die sich ihr aufdrängten. Es war schwer zu glauben, dass die Zwergin, die summend ihren Kamm wusch und einpackte, eine eiskalte Mörderin war. Wie viele Aufträge sie wohl schon erfüllt hatte? Und wie viele dank ihres Honigwurzelöls?
Hel warf Nova einen Seitenblick zu und bemerkte, wie blass er geworden war. Unauffällig kniete sie sich nieder, tauchte die Hand in den Teich und spritzte ihn nass. Vor Schreck sprang er zurück.
»Du ...! Na warte!«
Quiekend ergriff Hel die Flucht. Ein paar Tropfen landeten in ihrem Nacken, doch sie war zu schnell für ihn. In ein paar Schritten umrundete sie den Teich, fuhr herum und stieß mit dem Fuß durch das Wasser. Womit sie Nova ärger erwischte als beabsichtigt.
Tropfend wie eine Tanne im Regen blieb er stehen. Hel öffnete den Mund, um eine Entschuldigung zu stammeln, aber sie brachte keinen Ton hervor. Und er hätte ihr auch nicht verziehen. Nun hieß es Nassmachen oder Nasswerden.
Prustend rannte Hel los, aber diesmal war Nova schneller. Ein eisiger Schwall klatschte ihr in den Rücken. Sie schrie auf und setzte zum Gegenangriff an. Nova stieß gegen sie und zusammen taumelten sie in den Teich.
»Genug«, japste Hel, aber sie musste so lachen, dass er sie kaum verstand. Dann stolperte sie über etwas, das auf dem Grund des Teichs lag. Nova konnte sie gerade noch festhalten und verhindern, dass sie rücklings ins Wasser fiel. Zitternd wischte sie sich die Haare aus dem Gesicht. Irgendetwas war unter Wasser. Sie bückte sich danach. Ein Stein. Mit Löchern...
Sie hob ihn aus dem Wasser. Und hielt einen Schädel in den Händen.
Herzschläge lang starrten sie den Schädel nur an. Er war größer als eine Leuchtkugel. Er hatte keine Zähne.
Atemlos blickte Hel zu Nova auf. Er zog sie aus dem Teich und der Schädel fiel ihr aus den Händen. Dumpf platschte er ins Wasser zurück. Hel sah, wie er über den Boden rollte. Da waren noch mehr seltsame Formen auf dem Grund. Plötzlich erkannten sie, dass der Teich voller Knochen war.
»Was macht ihr da?« Harlem erhob sich. »Was ist?«
Hel spürte kaum, wie fest sie und Nova die Hände umklammerten. Er schluckte. »Wir müssen hier weg. Sofort.«
Ohne sich loszulassen, umrundeten sie den Teich und liefen zu den anderen zurück, die inzwischen ebenfalls aufgewacht waren.
»Was geht denn hier vor?« Olowain stand auf.
»Da sind Knochen«, stammelte Hel.
»Was? Von wem?« Er sah sie verwirrt an.
»Von Trollen.« Alle fuhren zu Harlem herum. Sie kniete am anderen Ufer und hielt einen tropfenden, dunklen Schädel. Nachdenklich betrachtete sie ihn. »Trolle«, wiederholte sie, stand auf und schleuderte den Schädel ins Wasser zurück. Sich die Hände am Umhang abwischend, verließ sie den Teich.
Kelda zuckte die Schultern. »In den Bergen leben Trolle, irgendwo müssen sie auch sterben.« Er legte Hel eine Hand auf die Schulter. »Vor den lebenden Trollen müsste man sich mehr fürchten als vor den toten. Lasst uns aufbrechen.«
Sie gingen schneller als sonst. Hel war nicht die Einzige, die immer wieder angestrengt ins Dunkel spähte.
Ein dumpfes Grollen erklang. Berano hatte sein Schwert schon halb gezogen, ehe er sich erinnerte, dass es nur der Wind war. Ein Wind, bei dem der Boden erzitterte ...
»Da waren so viele Knochen«, murmelte Hel Nova zu, als sie nicht aufhören konnte, daran zu denken. »Wieso würden so viele Trolle an derselben Stelle sterben?«
Er fuhr sich nervös mit der Zunge über die Lippen. »Ich weiß auch nicht. Vielleicht konnten sie nicht schwimmen.«
Sie verdrehte die Augen. »Das ist nicht lustig!«
Er kicherte, doch damit konnte er seine Angst nur schlecht überspielen. Sie wusste, dass es ihm genauso unheimlich war wie ihr. Sie schlang die Arme um sich. Zwar war das Wasser an ihrem Umhang abgeperlt, doch ihre Schuhe waren noch nass, und ihre Zehen begannen, taub zu werden.
Dann blieb Olowain, der vor ihnen lief, zögernd stehen. Auch die Söldner hielten an. Hel drängte sich zwischen sie, um zu sehen, was los war. Ihr drehte sich der Magen um.
Ein halb verwester Troll lag auf dem Weg. Der gesamte Unterkörper fehlte; Knochen ragten aus dem dunklen Fleisch. Irgendetwas hatte ihm den Rücken aufgerissen. Der Fäulnisgeruch stand schwer und dick wie Brei in der Luft.