Im Schutz eines Felsblocks, wo der Wind nicht so stark wehte, schlugen sie ihr Nachtlager auf. Der Proviant der Zwerge war fast aufgebraucht, doch das schien niemand außer Harlem zu bedauern. In den Wäldern würden sie jagen können und dank der vielen Wasserfälle und Bäche würden sie nicht verdursten.
»Der Troll ... war ganz schön riesig«, bemerkte Caiden, als sie aßen. Bis jetzt hatte noch niemand den Vorfall erwähnt. Es war auch keine Zeit gewesen.
»Kein Wunder, bei all den anderen Trollen, die er verdrückt hat!«, meinte Arill. Relis begann zu kichern, die anderen stimmten mit ein. Es war ein verzweifeltes und befreiendes Lachen, das sie alle bitter nötig hatten.
»Mal ehrlich. Wie konnte er so groß werden?«, fragte Nova.
»Er hat sich eben anständig ernährt«, kicherte Berano.
»Die Natur bringt immer Neues hervor, das ist normal«, sagte Olowain nüchtern. Sie wurden wieder ernst. »Angeblich stammen die Trolle dem Lebendigen Land direkt ab. Ihre Vorfahren waren also Felsen mit besonders viel Lirium. Und Felsen sind schließlich verschieden groß.«
Nach diesem für Olowain ungewöhnlich kurzen Vortrag verstummte er wieder, holte zwei Finger Lirium aus seinem Beutel und nahm die Spitze seines Stabes ab, um ihn aufzufüllen. Man konnte dem Magier ansehen, dass er in Gedanken woanders war, schon seit sie Gondurill verlassen hatten. Sie alle waren seitdem stiller geworden, wenn auch aus verschiedenen Gründen.
»Was glaubt Ihr, wie tief im Westen wir sind?«, wechselte Kelda das Thema.
»Ich vermute, wir sind recht nah an den Silbernen Steppen. Am Rand der Welt ... Habt ihr vorher die Berge im Norden gesehen?«, fragte Olowain.
Sie schüttelten die Köpfe.
»Nun«, seufzte Olowain. »Ich habe in ihnen die Kauenden Klippen erkannt. Es gibt keine Gebirge, die ihnen ähneln. Der Fels ist dunkler als verbrannte Erde und die Gipfel spitz wie Wolfszähne. Da, wo die Kauenden Klippen die Gebirge des Mittlands berühren, liegt die Grenze zum Alten Reich und zu den Silbernen Steppen.«
Hel versuchte, sich vorzustellen, was jenseits all dieser Grenzen lag. Es war unmöglich. Wie konnte die Welt irgendwo aufhören? Andererseits schien es Hel auch unmöglich, dass alles unendlich weiterging. Darüber nachzudenken bedeutete, die Grenzen des menschlichen Verstands zu ertasten. Vielleicht die einzige Grenze, dachte Hel, die auch alle anderen Grenzen bestimmte.
»Wieso traut sich niemand in die Silbernen Steppen?«, fragte sie Olowain.
»Es ist ein sehr feindlicher Ort. Man hat versucht, dort Stürme zu jagen, doch es ist unmöglich. Die Winde sind zu stark, die Stürme haben jedes Schiff zerschmettert. Zu Fuß ist man sowieso verloren. Es ist ein Meer aus Gräsern, höher als ein Mann. Es heißt, unbekannte Bestien schleichen darin herum. Wenn man die Grenze zum Alten Reich überschreiten wollte, würde ich den Weg durch die Kauenden Klippen den Silbernen Steppen noch vorziehen. Dabei bedeuten die Kauenden Klippen fast sicher den Tod, selbst für einen erfahrenen Magier. Die Druiden des Alten Reichs haben gute Arbeit geleistet, als sie sich für immer abkapselten.«
»Also gibt es in den Silbernen Steppen noch Lirium«, schloss Arill und beobachtete Hel und Nova. »Können die Sturmjäger nicht wenigstens in die Nähe der Steppen gelangen, um Lirium zu sammeln?«
»Es ist nicht so leicht«, erklärte Hel. »Die Kauenden Klippen zum Beispiel sind noch lebendig, aber ein Zauber liegt über ihnen. Obwohl der Boden voller Lirium ist, verlässt es ihn nie, es gibt dort keine Liriumstürme. Das haben die Druiden damals absichtlich bewirkt.«
Nova nicke zustimmend.
»Die Magierschaft ist dabei, neue Methoden zu entwickeln«, sagte Olowain, ohne den Blick zu heben. »Niemand muss sich Sorgen darum machen, wo wir in Zukunft Lirium herbekommen. Es gibt noch genug Quellen.«
Hel fand das nicht überzeugend. Selbst wenn es noch Quellen gab, die auch zugänglich waren, würden diese eines Tages ebenso versiegen wie die anderen. Das Problem war dadurch nicht gelöst. Nur verschoben, auf die nächsten Generationen. Es machte Hel wütend, dass niemand Verantwortung übernehmen wollte, aber andererseits wusste sie auch keine Lösung. Vielleicht gab es keine. Vielleicht musste schlichtweg alles irgendwann enden. Feige wünschte sie sich, sie hätte in einer sorgloseren Vergangenheit gelebt, als man diese Überlegungen noch verdrängen konnte.
Olowain räusperte sich und zog seinen Umhang fest, ehe er sich schlafen legte. Auch die anderen verkrochen sich in ihre Umhänge und rutschten tiefer. Das Licht des Stabes wurde schwächer. Hel sah ihren Atem in die Nacht davontanzen und war froh über den magischen Stoff, der sie warm hielt.
»Morgen wirst du nach toten Stellen im Land Ausschau halten«, sagte Olowain leise zu ihr. »Ab hier bist du unsere Wegführerin, Hel. Ich habe eine vage Ahnung, wo Naruhl liegt ... aber es hängt wirklich mehr an dir.«
Sie biss die Zähne zusammen und rang sich zu einem knappen »Gut« durch. Sie würde tun, was er verlangte. Aber nicht in der Hoffnung, Naruhl zu finden.
Sie suchte Keldas Blick und nickte kaum merklich. Er sah sie an und begriff.
Bei Tagesanbruch erwachten sie. Das Licht schien Hel greller als je zuvor, ob das nun an ihrer langen Zeit unter der Erde lag oder an der Tatsache, dass sie der Sonne hier oben näher waren. Nach einem kurzen Frühstück brachen sie Richtung Westen auf. Mächtige Felsen und Klippen versperrten ihnen immer wieder den Weg, und sie mussten mehr als einmal umkehren, wenn sich ein unüberwindbares Hindernis vor ihnen auftat.
Der Nebel verflüchtigte sich ein wenig, als der Tag voranschritt. Hel hielt im Land Ausschau, doch es gab überall tote Flecken. Gleichzeitig war keiner groß genug, um auf ein vernichtetes Dorf zu schließen. Hel fragte sich, ob hier, so weit von den Adern entfernt, überhaupt Menschen lebten. Wahrscheinlich nicht. Wie sollte sie dann den Dämon aufspüren? Wahrscheinlich war er viel weiter hinter ihnen, wo es Menschen gab, die er töten konnte. Hel wurde unruhig bei dem Gedanken. Vielleicht schaffte sie es, Olowain zu überzeugen, zurück nach Osten zu reisen. Er durfte keinen Verdacht schöpfen, dass sie nicht beabsichtigte, Naruhl zu finden.
Gegen Nachmittag stießen sie auf eine Stelle, wo der Berg in einem sanften Hang abfiel, und sie begannen ihren Abstieg. Dunkle Tannenwälder nahmen sie auf, deren Boden so dick mit Moos und Nadeln bedeckt war, dass ihre Schritte lautlos blieben. Vögel sangen in den Bäumen. In der Ferne knarzte Holz. Es begann, dunkel zu werden. Sie machten unter einer Tanne halt, deren Wurzeln sich wie ein Schiff ausbreiteten und ihnen allen Platz bot, in ihrer Umarmung zu schlafen. Doch sie waren hungrig vom langen Tagesmarsch, und die Söldner beschlossen, auf Jagd zu gehen. Nova holte das magische Taschentuch hervor, das seine Mutter ihm beim Aufbruch geschenkt hatte: Wie sie ihm erklärt hatte, gab er ein wenig Lirium darauf. Der weiße Stoff nahm die Magie sofort auf. Als Nova damit über Arills Arm strich, wurde er unsichtbar.
»Huuuh«, machte Nova. Er drehte sich zu Hel um und strahlte. »Mir fallen gerade hundert Gelegenheiten ein, wo ich das hier benutzen werde.«
»Und ich wette, sie tragen alle Mädchennamen.«
Er lachte. Dass er keine schlagfertige Antwort fand, sondern sie nur anblickte, irritierte Hel ein wenig. Sie kratzte sich am Kopf und beobachtete, wie die Söldner sich einer nach dem anderen mit dem Taschentuch wegwischten. Schließlich war nur noch das Klappern ihrer Waffen zu hören.
»Wie lange hält das wohl an?«, wunderte sich die Stimme von Relis.
»Nicht so lange, wie es gedauert hat, sich ganz unsichtbar zu machen«, sagte Olowain und klopfte sich auf den Bauch. »Also beeilt euch, Freunde! Und bitte ... versucht, etwas zu jagen, wovon wir lange satt werden.«