»Auf keinen Fall«, grinste Hel. Doch sie trank ihren Kelch aus und ging hinüber, um nachzusehen. Einen großen Schluck hatte sie jetzt nötig. Tatsächlich stand eine Flasche unter dem Fenster, doch sie war leer.
»Wenn du willst, hole ich eine von unten.« Sie sammelte das Geschirr und die Flaschen ein, die im Raum verstreut waren. Gharra nickte. Als sie die Tür öffnen wollte, sagte er leise: »Ich habe den Antrag auf die Erbschaft schon an die Magier verschickt.«
Hel biss die Zähne zusammen und lächelte. Dann öffnete sie die Tür. »Lass uns gleich in Ruhe darüber -«
Das Schiff bebte. Einen Herzschlag lang spürte Hel die Leere unter den Füßen, die Hunderte von Metern Leere. Alles stürzte zur Seite weg.
Hel schrie auf. Das Geschirr flog in die Kajüte zurück und zerschellte an den Regalen. Die Tür knallte ins Schloss. Tief aus dem Schiffsinneren rollte ein markerschütterndes Grollen, ließ Boden und Wände vibrieren und das Holz knarzen.
»Was passiert?«, rief Gharra. Ein jäher Windzug brauste durch das Fenster und wischte sein Haar zur Seite. »Ein Sturm! Ein Sturm!«
Überall klirrten Gegenstände zu Boden.
»Das ist kein Sturm!« Hel stemmte die Tür auf und taumelte hinaus. Das Schiff lag schräg in der Luft. Irgendwo in der Dunkelheit des Himmels bewegte sich etwas. Mit fiebrigen Fingern riss sie sich die Augenklappe vom Gesicht.
Ein Schrei erklang.
Jureba.
Die zweite Sicht kam wie ein jäher Rausch aus Farben und Licht. Hel konnte nicht glauben, was sie ihr zeigte.
Eine gigantische Woge schoss aus der Tiefe empor. Sand. Lebendiger Sand, schillernd und funkelnd vor Lirium. Die tobende Masse stürzte auf das Schiff nieder, riss den Mastkorb wie ein Streichholz um, zerschmetterte die Brücke, die Kurbel, die Trolle und Jureba.
Hel fehlte die Luft, um einen Schrei auszustoßen. Gelähmt vor Schock sah sie, wie die Gestalt im strahlenden Licht ertrank.
Jureba. Jureba, die ihr das Lesen beigebracht hatte. Die nach Pfefferminz und Trollmief roch und die zur Schwalbe gehörte wie die knatternden Planken. Nach einem ganzen Leben war Jureba einfach so, in zwei Sekunden, tot.
Die Brückenrohre, durch die Lirium floss, platzten. Wirbel aus funkelnder Magie schossen hervor. Die Schwebkraft des Schiffs. Ohne Lirium würden sie abstürzen.
Hel rannte los. Kein Gedanke drang zu ihr durch, sie reagierte einfach, schlitterte die Außentreppe hinab, hastete über das Hinterdeck, stürmte in die Kabine des Steuermanns und drehte das Rad, das den Liriumfluss des Schiffes regulierte. Tief unter ihr schien das Herz der Schwalbe stillzustehen. Kein Lirium entwich mehr durch die offenen Rohre, alles erstarb, verstummte; aus weiter Ferne vernahm Hel die Rufe der Mannschaft und ein feines, boshaftes Prasseln ... dann drehte sie ein zweites Rad. Es war schwer und klemmte. Sie musste sich mit ihrem ganzen Körpergewicht dagegenstemmen. Endlich glitt es herum. Neue Rohre begannen zu gluckern und zu beben – die Ersatzleitungen, die nicht über die Brücke führten, sondern an der Reling entlang.
Die Tür schlug auf und Sillis, der Steuermann, stürzte herein. »Mach zu!«, schrie er. Er stieß Hel zur Seite und drehte das Rad zurück.
»Aber die Hauptrohre sind zerschmettert!«, protestierte Hel.
Sillis fuhr herum, das Gesicht schien vor Panik wie Wachs zu schmelzen. Für eine Sekunde starrte er ihr entblößtes Auge an, und Hel wollte instinktiv die Hand heben, um es zu verdecken – stattdessen ballte sie zitternd die Faust um das Medaillon, das sie immer noch festhielt.
»Alle Rohre sind zerschmettert.«
»Was?«
Ehe die Bedeutung der Worte Hel erreichen konnte, barsten die Fenster. Hundert spitze Schmerzen erstrahlten in ihrem Rücken. Eine unbekannte Wucht riss sie zu Boden, presste sie nieder, presste die Luft aus ihren Lungen. Ihr Keuchen ging unter im heißen Rasseln von Abermillionen lebendigen Sandkörnern.
Direkt unter ihr krachte es.
Der Boden brach ein. Holzsplitter spritzten in alle Richtungen. Auch sie stürzte hinab, hinauf und zu beiden Seiten. Im Fall irrten Schreie und jähe Lichter vorbei. Sie prallte auf. Die Welt wurde schwarz und flammte dann in hundert irrsinnigen Bildfetzen wieder auf. Ein Bett schoss waagrecht durch den Flur, Wände bogen sich wie Ledergürtel. Und Sand, überall.
Kaputte Fenster wurden zu Kehlen und pfiffen ein rasendes Fahrtlied. Der Sand kroch durch die Ritzen der Trümmer, Hel hörte das Brüllen der Männer, die er fraß. Ob auch sie schrie, wusste sie nicht. Der Sand schloss sie in seine übermächtige Faust und trank alles. Dann Dunkelheit, gepeitscht von Schreien und Stille.
Schatten
Hel hatte oft vom Tod geträumt. Auch nach Jahren bei den Sturmjägern war sie noch nachts hochgeschreckt, die Augen verklebt von grausamen Bildern.
Im Schlaf sah sie Menschen sterben, ein Boden, vor dem man nicht fliehen konnte, wölbte sich unter panischen Füßen, Kiesel klapperten in höhnischem Gekicher, die Erde tat sich zum Schlund auf, ein grinsendes Maul, auf dessen krustigen roten Lippen Dörfer und Städte zischend schmolzen, vieles stürzte in die glühende Finsternis der Erde, und was nicht fiel, wurde unter Wogen aus Granit zermalmt -
»Wir leben auf einem Grab«, flüstert eine Stimme bei Kerzenschein. Wie die Kerze muss man zittern. Sich ducken. Wird von Schatten belauert. »Wir rackern uns auf unserem eigenen Grab ab. Wofür? Für sie? Nicht für uns!«
Zwei Arme tragen sie durch die Finsternis, vertraute Arme, sie riechen gut, nach Wärme, nach Arbeit und Erde, feines Frauenhaar kitzelt ihre Wange, auch das Haar riecht schön, wieso weint sie? Und dann müssen sie rennen, Schreie zerreißen die Nacht, Schmerzen durchdringen ihre Glieder und alles wird in die Länge gezogen, ehe knirschende Steinzähne es wieder zusammenpressen, das Gras reißt auf und offenbart schwarzes, feuchtes Fleisch, hungriges Fleisch, hungrig nach Fleisch, und die Arme sind kalt, sie klammern gierig wie fressende Erde -
Immer wieder stürzte Hel aus den Albträumen in ihr Bett zurück. Doch ihr taumelndes Herz verriet ihr, dass es mehr als Träume waren. Welche Erinnerungen auch immer in ihr begraben lagen: Sie waren entsetzlich.
Unter den Sternen
Die Wüste hatte Jahrhunderte vorüberziehen sehen. Im Wechsel von Tag und Nacht öffnete sie ein Auge, glühende Sonne und tränender Mond. Nichts blieb ihr verborgen.
Durch die Weiten ihres gelben Gesichts zog eine Narbe, geschaffen von Menschenhand und Zauberkraft: die Kauenden Klippen. Mancherorts schliefen die Berge. Andernorts regte sich das lebendige Gestein, durchbrach malmend den Boden und stieß seine Hauer in den Himmel. Auf Zahnkronen, wo Moos und manchmal Schnee den nackten Fels überzog, senkte der Nebel seinen Rocksaum und verbarg die Grenzen des Alten Reichs vor neugierigen Blicken.
Am Fuß der Klippen, den starren Augen der Wüste ausgeliefert, lag ein Trümmerhaufen. Vor einer Nacht noch war er ein Schiff gewesen.
Ein trockenes Ächzen bahnte sich den Weg durch die Kehle. Hel wollte ausspucken, was auch immer auf ihrer Zunge klebte, ihren Hals verstopfte, doch sie fand nicht die Kraft. Sand, unter und über ihr.
Bilder durchzuckten sie, Gewittern gleich. Was, was bei allen Geistern war geschehen ...? Funken von Lirium verglommen ringsum, die körnige Masse verlor ihre Lebenskraft ebenso rasch, wie sie sie bekommen hatte. Zurück blieb nur Totes. Und Hel.
Irgendwann kehrte ein Licht zurück. Klein und violett. Es umschwirrte aufgeregt ihre Faust, die sich noch immer um ein glimmendes Medaillon schloss ... Das Licht warf winzige Glasscherben durch die Luft, dann schluckte es das Herz mit einem Happs hinunter und verschwand kichernd. Hel sank in Fieberträume.