Weil es so dunkel war, bemerkten sie die Dämmerung nicht. Die Umrisse der Bäume verwischten mit einem Mal, als wäre die Nacht wie ein Tuch über sie gefallen. Die Gefährten hielten an und entfachten ein Feuer, um das Fleisch zu braten.
Nachdenklich blickte Hel in die Flammen.
»Wir könnten auch nach Spuren suchen«, schlug Relis vor. Hel blicke auf. Es kam nicht oft vor, dass die Söldner einen Vorschlag machten – dieses Vorrecht nahm sich höchstens Arill heraus.
»Spuren von Reitern oder Wanderern«, erklärte Relis und spuckte ein Knorpelstück ins Feuer. »Irgendwie müssen die Rebellen schließlich nach Naruhl kommen.«
Olowain nickte. »Du hast recht. Lasst uns darauf achten.«
Plötzlich schwebte ein Licht vorüber. Hel stieß einen Schreckenslaut aus.
»Was ist?«, rief Nova.
Die Söldner fuhren auf.
Entgeistert starrte Hel dem Licht nach, das rasch im Unterholz verschwand. Niemand sonst bemerkte es. »Da war etwas«, stammelte sie. »Auf der zweiten Sicht!«
»Hier?«, fragte Olowain.
»Ja, jemand ist gerade vorbeigegangen!«
»Ich habe nichts gesehen«, sagte Harlem.
»Und nichts gehört«, warf Arill ein.
Fassungslos schüttelte Hel den Kopf. »Ich habe das Licht mit der zweiten Sicht gesehen. Jemand ist vorbeigelaufen. Direkt hier.«
»Bist du sicher?« Olowain packte seinen Stab mit beiden Händen.
»Vielleicht ... nur ein Geist«, murmelte Hel, aber sie wusste, dass es zu wenig Magie in der Umgebung gab, um Geister anzulocken. Vor allem in der Größe.
»Jemand könnte einen Unsichtbarkeitszauber angewandt haben«, sagte Nova. Sie starrten sich an. Die Angst stieg wie kaltes Wasser um sie.
»Ausgeschlossen«, sagte Olowain so energisch, dass niemand ihm recht glauben konnte. »Diese Zauber sind Magiern vorenthalten und nicht käuflich. Und ich glaube kaum, dass ein Mitglied der Magierschaft in der Nähe ist.«
Hel presste die Lippen aufeinander. Sie hatte selbst oft genug gesehen, wie Unsichtbarkeitszauber und vieles mehr auf verbotenen Märkten angeboten wurden.
»Wir hätten doch auch Schritte gehört, wenn jemand vorbeigekommen wäre«, sagte Caiden.
Berano runzelte die Stirn. »Und wenn es der Dämon ...«
Eisiges Schweigen folgte diesem Gedanken. Niemand wagte, sich zu regen. Mit klopfendem Herzen spähte Hel über ihre Schulter in den Wald zurück, doch dort war nichts zu erkennen. Die Dunkelheit blieb vollkommen.
»Vielleicht habe ich mich geirrt«, sagte Hel mühsam. Sie wusste, was sie gesehen hatte. Aber es half nicht, die anderen zu beunruhigen. Wahrscheinlich war es sowieso nur eine natürliche Erscheinung gewesen. Ein wenig Lirium in der Luft. Wahrscheinlich ... Trotz des magischen Umhangs begann Hel zu bibbern.
In dieser Nacht fiel es ihr noch schwerer einzuschlafen. Sie hatte das Gefühl, dass es den anderen ähnlich ging. Jedenfalls verhielten sie sich verdächtig ruhig, nicht einmal ein Schnarchen von Harlem war zu hören. Angespannt lauschte Hel in die Nacht. Jedes Licht, das sie mit der zweiten Sicht erspähte, ließ sie zusammenfahren. Einmal liefen ein paar Rehe vorüber und erschreckten sie zu Tode.
Schließlich gelang es ihr doch einzudösen. Unruhige Träume verfolgten sie voller fremder Stimmen und Windrauschen ... schwarze Bäume, die sich zu ihnen hinabbeugten und ihre Zweige öffneten, um sie zu verschlucken ... die ganze Nacht hielt sie das Feenlicht, das sie um den Hals trug, fest umschlossen.
Als es dämmerte, schlug sie ohne besonderen Grund die Augen auf. Vor Schreck fuhr ein Stich durch ihr Herz: Ein Licht kam auf sie zugeflogen.
Wie vom Blitz getroffen sprang sie auf und trat versehentlich Nova in den Rücken »Wa ...?«
»Tix!«, stieß sie aus.
In weiten Spiralen kam der Pixie angeflogen und fiel dann wie ein feuchter Waschlappen zu Boden. Hel konnte ihn gerade noch auffangen. Schwächlich glimmend lag er in ihrer Hand und verdrehte den großen runden Kopf.
»Tix! Was machst du denn hier?«
Der Pixie röchelte leise. »Huuu ... nger!«
Hel schlug ihren Beutel auf und öffnete den Finger Lirium. Freigiebig kippte sie die schwarzen Funken in Tix’ aufgerissenes Maul. Als sie den Finger wieder verschloss, öffnete Tix erst ein, dann auch das andere Auge. Dann sprang er auf, flog quietschfidel aus ihrer Hand und begann, sein eigenes Licht abzuklopfen, als wollte er es von Hels Berührung reinigen.
Inzwischen war auch Nova aufgewacht und erhob sich verwundert.
»Deine Wachtel hat mich geschickt, um dir was zu geben«, zirpte Tix.
Nova machte einen Schritt vor. »Aricaa schickt dich?«
»Ich soll dir das hier von ihr geben.« Tix streckte die Brust vor und schlug sich dagegen. Dann brach er in helles Gekicher aus.
Etwas in Novas Gesicht erlosch. »Dein Herz? Sie gibt mir das Herz zurück ... Und du hast das Glas natürlich aufgebrochen und es dir genommen!«
»Korrekt!«
Nova senkte die Schultern und rieb sich die Stirn. »Was willst du dann noch hier? Du bist frei und niemandem verpflichtet.«
»Ich sollte dir ja noch etwas von ihr geben.« Tix flog näher heran. Direkt vor Novas Gesicht holte er aus und trat ihm mit aller Kraft ins Auge.
»Au!« Nova taumelte zurück und stolperte über Olowain und Harlem. Die Gefährten erwachten.
»Mistvieh!«, rief Nova.
»Was? Also ...« Entsetzt richtete Olowain sich auf. »Wie bitte?«
Tix gackerte.
»Na warte!« Nova versuchte, ihn zu fangen, doch Tix wich aus, und Nova stürzte über Caiden und Berano. Nun waren endgültig alle aufgewacht.
»Du hast es voll vermasselt mit der pummeligen Pute!«, zwitscherte der Pixie.
Nova nahm die Hand vom Auge, um ihn böse anzufunkeln. »Aricaa ist keine pummelige Pute! Sie ist wunderschön, und ich verbiete dir, so über sie zu reden!«
Tix streckte ihm die Zunge raus und blubberte Spucke.
»Was geht hier vor, um Himmels willen?« Olowain stand auf.
Hel seufzte. »Novas Verlobung. Oder besser gesagt, die Auflösung davon.«
»Hier?« Olowain ließ seinen Stab aufleuchten, um Tix zu inspizieren. »Wie hast du uns überhaupt gefunden, Geist?«
Tix wies mit dem Finger in die Luft. Olowain sah nach oben.
Eine Eilige Feder schwebte aus dem Himmel zu ihnen herab. Hastig zog Olowain ein Stück Papier unter seinem Umhang hervor. Die Eilige Feder begann sofort zu schreiben. Beim Lesen weiteten sich Olowains Augen.
»Ist das eine Nachricht von Aricaa?«, stammelte Nova nervös. »Wieso schreibt sie Euch, Meister Olowain? Was auch immer sie sagt, ich habe nichts -«
»Von der Magierschaft«, unterbrach ihn Olowain, ohne den Blick vom Brief zu wenden. Als die Feder fertig und ihre Aufgabe erfüllt war, sank sie leblos zu Boden. Olowain packte das Papier mit beiden Händen. »Die Isen sind entlang des Flusses gewalttätig geworden. Isische Arbeiter in Kapua haben die Felder in Brand gesetzt. Die Ernte eines ganzen Jahres -« Er biss die Zähne zusammen. Das Papier knisterte in seinen Fäusten. »Es ist zu spät. Der Isenaufstand ist da.«
Fassungslos starrten sich alle an.
»Aber ...« Hel schluckte. »Dann gibt es Mutter Meer wirklich? Und sie ist nicht mehr in Naruhl?«
»Ich weiß nicht, ob es eine Anführerin gibt.« Olowain überflog den Brief wieder. »Aber wie es scheint, brechen die Kämpfe überall aus. Wahrscheinlich brauchte es nicht einmal eine Anführerin. Der Glauben an eine hat bereits genügt.« Er hob den Blick zu Kelda. »Und Zeit.«
Ein eisiges Blitzen lag in Olowains Augen, wie Hel es nie zuvor gesehen hatte. Er knüllte den Brief zusammen. »Ich werde dich nur einmal fragen, Kelda, und erwarte eine ehrliche Antwort. Hast du uns absichtlich in die Wildnis geführt, um deinesgleichen Zeit zu verschaffen?«