Die Worte trafen sie wie Schläge. Harlem blinzelte verdutzt. Kelda starrte Olowain an.
Der Magier packte seinen Stab und kam einen Schritt auf ihn zu. »Antworte. Habe ich recht mit meinem Verdacht?«
Sie standen sich so dicht gegenüber, dass ihre Nasenspitzen sich fast berührten. Kelda regte sich noch immer nicht. Dann sagte er leise, ohne den Blick zu senken: »Nein.«
Olowain fixierte ihn. Der Stab glomm auf und erlosch wie ein zitternder Herzschlag. Hel fragte sich, ob der Magier vielleicht Gedanken lesen konnte, und fürchtete um Kelda. Sie war bereit einzuschreiten – ja, sie spürte, dass sie Kelda beschützen würde, wenn ...
Dann drehte Olowain sich endlich um und kehrte den anderen den Rücken zu. Kelda atmete so tief durch, dass seine Schultern bebten. Ein Geräusch entschlüpfte seinem Mund, halb Keuchen, halb Zischen. »Aber ich wusste ... dass die Rebellion kommen würde, bevor wir Mutter Meer finden.«
Keiner bewegte sich. Olowain umklammerte seinen Stab so fest, dass die Knöchel hervortraten. Kelda beobachtete ihn und in seinen Augen schrien Stimmen des Triumphs und des Hasses, der Verzweiflung und der Schuld.
Langsam wandte Olowain sich zu ihm um. Sie sahen sich an und da war sie, die Wahrheit, wie eine Pfütze zwischen ihnen. Hel rang nach Luft.
»Ich war dabei, als Ozah uns gesagt hat, dass die Rebellen sich in Naruhl sammeln! Kelda hat das nicht erfunden«, sagte sie fest. »Er hat nur getan, was Ihr von ihm verlangt hat. Ihr habt ihn nicht gefragt, was er davon hält, oder? Ihr könnt ihm nicht vorwerfen, dass er etwas geahnt hat, das nun eingetreten ist.«
Olowain blähte die Nasenflügel vor Erzürnung, doch der Augenblick verging. Schließlich sah er in die Runde, ohne irgendjemanden wahrzunehmen, und murmelte: »Packt eure Sachen. Wir kehren um.«
Niemand rührte sich, bis Olowain losging. Die Söldner blickten fragend zu Arill.
»Einfach so?« Unentschlossen strich Harlem über ihre Stilette.
»Du wirst deinen Lohn erhalten, als hätten wir unsere Mission erfolgreich abgeschlossen, Harlem«, gab Olowain zurück. »Packt zusammen!«
Arill gab den Söldnern einen Wink, dem Befehl zu folgen.
»Was ist mit Mutter Meer?«, rief Nova dem Magier nach, der inzwischen einen Hang hinaufstapfte. »Ist sie jetzt nicht mehr gefährlich? Nach allem, was sie angeblich getan hat? Die abgestürzten Schiffe und -«
Olowain fuhr herum, nicht nur wegen Nova, sondern auch wegen eines Busches, in dem sich sein Umhang verheddert hatte. Wütend versuchte er, den Stoff herauszureißen, und fiel beinahe hin. »Sieh dich um, Junge! Hier in dieser Wildnis ist keiner! Die Wälder sind verhext. Niemand, der halbwegs bei Verstand ist, würde sich hier verstecken, erst recht nicht, wenn man Anhänger um sich scharen will.«
»Aber sie hat doch dämonische Kräfte, Mutter Meer«, sagte Nova leise. »Moment mal – die Wälder hier sind verhext, was soll das heißen? Was heißt das?«
Olowain wurde bleich vor Wut. »So oder so – die Magierschaft hat keine Zeit mehr, erfundenen oder auch nicht erfundenen Rebellen nachzuspüren. Echte Rebellen aus Fleisch und Blut sind bereits vor den Toren unserer Städte! Wir müssen sie nicht erst im Niemandsland suchen.«
Hel ballte die Fäuste. Sie hatte es ja gewusst – es ging der Magierschaft nur darum, einen Sündenbock zu finden.
»Aber was ist mit den abgestürzten Schiffen? Und den ausgerotteten Dörfern?«, hakte Hel nach. »Wir sind hergekommen, um die Verbrecher zu finden!«
»Und sie sind in Aradon!«, herrschte Olowain sie an. Hel machte einen Schritt zurück. »Sie sind bereits in Aradon«, wiederholte Olowain leiser. Als er sich wieder zum Gehen wandte, schüttelte Hel den Kopf.
»Nein ... die isischen Rebellen sind in Aradon. Nicht der Dämon. Wir sind hier, um den Dämon zu finden.«
»Fein. Du willst einen Dämon finden, der am Absturz deines Schiffes schuld ist. Rache, ich verstehe vollkommen, es ist eine absolut legitime Regung.«
Hel sah ihn mit zusammengepressten Lippen an. Er merkte nicht, wie seine Worte ihr wehtaten. Oder er verletzte sie mit Absicht.
»Aber ich werde dir nun etwas sagen, meine junge Freundin: Wenn du dich so beharrlich weigerst, an rebellische Isen zu glauben, dann musst du dich damit abfinden, dass das Lebendige Land an allem schuld ist. Naturkatastrophen, die sich zufällig in einer Zeit des Aufruhrs ereignet haben.«
Hel merkte kaum, dass sie den Kopf schüttelte; erst als Olowain die Stirn runzelte, wurde es ihr bewusst. »Was, du glaubst mir nicht? Weißt du, wozu das Land fähig ist?« Er kam langsam auf sie zu. »Weißt du, welche Kräfte in der Erde schlummern? Dann werde ich dir etwas erzählen. Die Gebirge sind unbewohnt, wurden weder von Zwergen noch Menschen je bevölkert, weil hier ein unheimlicher Zauber herrscht. Dass du gestern ein Licht vorüberschweben gesehen hast, wundert mich nicht. Auch ich habe Stimmen gehört, nachts ... es gibt Dinge, die jenseits unseres Verständnisses liegen. Vielleicht ist das auch gut so.« Er funkelte sie an. »Und jetzt lasst uns diese verwunschene Wildnis verlassen, solange wir können.«
Hel schluckte schwer.
»Alles klar!« Nova packte Hel am Arm, um sie vorwärtszuziehen. »Wir gehen!«
Schweigen lag für den Rest des Tages über ihnen. Keiner sagte etwas, sogar ihre Blicke wichen sich aus. Hel konnte nicht fassen, dass es das gewesen sein sollte. Eine völlig sinnlose Reise quer durch das Land, für nichts. Nur um zu hören, dass hinter dem Absturz der Schwalbe wahrscheinlich eine Laune des Lebendigen Landes steckte, über die sie sich nicht den Kopf zerbrechen sollte. Sie sollte das Ganze einfach hinunterschlucken. Vergessen. Und wenn die Wut sich nicht schlucken ließ, sollte sie ihren Hass auf jemand anderen richten. Die Isen boten sich an.
Abends, als sie um das Feuer saßen und darauf warteten, dass ihr Essen gar wurde, brach Nova die Stille: »Warum genau ... sagt man denn, dass die Gebirge hier verwunschen sind?«
Olowain stierte weiterhin in die Flammen, antwortete aber: »Viele Geschichten. Hauptsächlich erfundene Geschichten, die erklären wollen, was sich nicht erklären lässt. Vor langer Zeit, als alles hier noch zum Alten Reich gehört hat, glaubten die Menschen an ein Volk, das die Welt vor uns beherrschte.«
»Alahr«, nickte Harlem. »So heißen sie bei den Zwergen. Es hat sie wirklich gegeben.«
»In der Alten Sprache nannte man sie Aljen«, fuhr Olowain fort. »Später wurde daraus Elfen.« Er schnippte ein Stöckchen ins Feuer. »Und ich bezweifle, dass es sie gegeben hat.«
Harlem warf ihm einen scharfen Blick zu, sagte aber nichts.
»Manche glauben, es gibt sie noch immer, hier, zurückgezogen in den tiefen Wäldern. Sie haben kein eigenes Licht. Sie müssen sich von Lirium nähren wie Geisterwesen, sind darum auch nicht vom Lebendigen Land gefährdet. Sie haben den Menschen Magie beigebracht und den Druiden einst die Herrschaft ermöglicht.«
»Was ist dann aus ihnen geworden?«, fragte Nova.
»Nichts«, erwiderte Olowain. »Weil es sie nie gegeben hat. Sie sind Erfindungen, um die Magie des Landes verständlich zu machen.«
»Woher wollt Ihr das wissen?«, murmelte Harlem. »Nun, wenn es Elfen wirklich gegeben hätte, würden sie immer noch Herrscher der Welt sein, oder?«
»Also gibt es keine Elfen, aber warum sind die Wälder dann verwunschen?«, fragte Nova.
»Was weiß ich«, schnappte Olowain gereizt. »Antworten, Antworten! Auf manche Dinge gibt es keine Antworten, sie sind einfach, wie sie sind.«
Nova schwieg beleidigt. Kelda nahm das Fleisch vom Feuer und schnitt es in gerechte Teile. Harlem reichte das Salz herum. Sie begannen zu essen.
»Es gibt schon Antworten auf alles«, murmelte Nova zwischen zwei Bissen. »Nur weil man sie nicht hat, heißt es nicht, dass sie nicht da sind.«