Выбрать главу

Wiedersehen

Sie erwachten mit Frost. Als Hel sich erhob, knisterten ihre Kleider, und die blasse Kruste aus Eiskristallen bröselte vom Stoff. Sie wickelten sich fest in ihre Umhänge und gingen los.

Hin und wieder schwebten Schneekörner durch die Zweige. Die Luft schien ganz aus blauem Nebel zu bestehen. Jeder Baum und Strauch und Stein sah darin wie eine Gestalt aus, bereit, im nächsten Moment über sie herzufallen. Ein einsames Holzknarzen in der weiten Stille erschreckte Hel so sehr, dass sie schon ihren Beutel geöffnet und den Finger Lirium gezückt hatte, bevor sie begriff, was sie tat. Sie versuchte, sich zu beruhigen. Was konnte ihnen schon zustoßen? Mit den Söldnern und Olowain an ihrer Seite hatte sie nichts zu fürchten ...

Trotzdem lag sie nachts wach in der Dunkelheit, das Feenlicht in der Hand. Der Wind pfiff durch das Geäst und heulte in nahen Schluchten. Ab und zu bogen sich die Bäume so sehr, dass Sternenlicht zu ihnen herabfiel und die einsamen Schneeflocken wie blinzelnde Augen durch die Schwärze glitten.

Ein kühler Hauch streifte Hel. Sie schauderte in ihrem Umhang. Da war etwas ... ein Seufzen. Der Wind. Sie umklammerte ihr Feenlicht fester. Hoffentlich war es der Wind. Sie lauschte angestrengt. Nur das Rauschen der Bäume antwortete ihrem trommelnden Pulsschlag.

Sie döste ein. Kaum eine Minute schien verstrichen zu sein, als sie wieder zu sich kam, noch immer in derselben Position und den Anhänger in der Faust. Mit der zweiten Sicht sah sie, wie Lirium durch den Boden wanderte. Sie richtete sich auf. Überall strömten feine Adern aus der Tiefe. In dieselbe Richtung.

Eine Weile konnte sie nur dasitzen und es beobachten. Die Adern waren fein wie Spinnweben. In einem trägen Takt bewegten sie sich voran, winzige Funken, wie Ameisen auf dem Weg zum Bau.

Hel atmete flach aus. Als sich ihr Beutel zu bewegen begann, unterdrückte sie einen Schrei. Tix kam zum Vorschein, ihren Finger Lirium im Arm. Wahrscheinlich hatte er die ganze Nacht versucht, ihn zu öffnen.

»Tix?«, hauchte sie. Der Pixie hörte sie nicht. Wie verzaubert starrte er in die Nacht. »Tix!«

Der Finger Lirium glitt ihm aus den Armen. Er schwebte davon.

»Wo gehst du hin?«, flüsterte sie. Klamm kam sie auf die Beine, um ihm zu folgen. Dann fiel ihr ein, dass sie besser den Finger Lirium mitnahm. Im Laufen schraubte sie den Verschluss auf. Nur für den Fall ... sie wusste nicht, welchen Fall, und wollte auch nicht darüber nachdenken. Ihre Schläfen hämmerten.

Tix flog dorthin, wo auch das Lirium hinströmte. Hel gab acht, nicht in die Magie zu treten, trotz ihres Feenlichts. Ein paar Funken ließen sich trotzdem von ihrem Weg abbringen und schwebten in den Anhänger, um im magischen Stein zu verlöschen. Hel ging mit weichen Knien weiter. Wo kam all das Licht plötzlich her? Und warum ...

Lichter strahlten ihr auf der zweiten Sicht entgegen. Und auf der ersten ...

Geisterwesen waren da. Und so viele! Tix war nur einer von zahllosen Pixies, Kobolden und Gnomen. Ihre bunten Lichter glommen in der Nacht wie rotierende Sterne. Dann trat ein Lymaerus aus dem Nichts, nur ein paar Schritte von Hel entfernt.

Sie schnappte nach Luft. Seine Mähne wogte auf wie Flammen. Ihr war, als würde er sie für einen Augenblick ansehen, ehe er auf den Mittelpunkt der Lichter zuschritt.

Wie im Traum tapste Hel ihm nach. Die Tannen öffneten sich vor ihr. Das Lirium schwebte aus der Erde, eine Woge aus Funken und Abertausend Funken, die nicht verebbten. Die Geisterwesen tauchten durch das schillernde Licht und sättigten sich daran.

In ihrer Mitte stand eine Gestalt. Die Arme waren ausgestreckt. All das Lirium wirbelte um sie herum. Langsam hob sie den Kopf. Die Kapuze rutschte hinab. Im Schein der hundertfachen Lichter sah sie Hel an.

Es war ein Kind. Ein Mädchen. Ihr dunkles Haar war lose zurückgebunden, ein paar struppige Locken fielen heraus. Der Mund teilte das Gesicht in der Mitte mit einem schmallippigen Lächeln. Augen, groß und glänzend wie Monde, waren auf Hel gerichtet. Ein Geräusch erklang, halb Lachen, halb Röcheln. Worte in einer fremden Sprache fielen in die Stille wie Murmeln. Dann bewegte das Kind die Hände.

Hel sackten die Beine ein. Die Welt kippte um, langsam. Licht und Dunkelheit verzerrten sich zu einem Strudel aus peitschendem Schmerz.

Hel schrie, doch sie hörte sich nicht. Das Gesicht des Mädchens brannte vor ihren Augen. Der Finger Lirium in ihrer Hand zerplatzte. Innerhalb einer Sekunde war ihr Feenlicht voll und nutzlos geworden. Das Leben schoss aus ihr hervor wie ein Sturzbach und -

Erinnerungen. Wie damals. Damals ... ein Kind in den Armen seiner Mutter, weiches Haar, Hände, die beschützen wollen und nicht mehr können ... eine Erde, die aufreißt, alles frisst, Licht aufsaugt -

Komm ... her zu mir, Licht ... aus allen Körpern, zu mir ...

Hel ächzte. Sich selbst zu hören, war der schockierende Beweis, dass sie noch existierte. Und der Schmerz. Dieser Schmerz, der ihr alles raubte, den Verstand -

Und dann verschwand das Licht. Verschwand der Schmerz.

Ein Geruch überschwemmte ihre Sinne wie eine Woge aus veilchenblauem Licht, kaum greifbarer als ein Gefühl und dennoch so überwältigend, dass Hel die Augen aufriss. Ihre Lungen füllten sich mit Luft, mit Leben.

Jemand hielt sie in den Armen. Sie spürte seine Hände irgendwo, überall. Seine Schläfe an ihrer. Nichts zählte mehr außer dieser Nähe. Hel klammerte sich daran fest mit allem, was ihr geblieben war.

Dann löste er sich von ihr und hielt sie vor sich. Licht und Dunkelheit kehrten in verständliche Formen zurück. Sie glaubte zu träumen.

Ihn so dicht vor sich zu sehen, nach all der langen Zeit, konnte nicht wirklich sein. Aber er war es. Sein Gesicht war nur noch Schatten und Wangenknochen. Er war blass wie die Morgendämmerung. Aber das Blau und Grau seiner Augen hatte sich nicht verändert, und sein Blick lag so vertraut auf ihr, als hätte er nie aufgehört, sie anzusehen.

Sein Umhang umgab sie beide, sodass der Rest der Welt ausgeschlossen war. Sekunden, die sich endlos anfühlten, starrten sie einander an.

»Was machst du hier?«

Seine Worte rieselten wie Funken durch sie hindurch. Selbst wenn sie eine Antwort gehabt hätte, wäre sie nicht fähig gewesen, einen Laut hervorzubringen. Sie hatte fast vergessen, wie der Bogen seiner Lippen aussah.

Im nächsten Moment hatte er sie zur Seite geschoben und der Umhang glitt hinab wie ein Vorhang zur Wirklichkeit.

Ein Strahl aus Lichtern schoss los. Er war zu schnell für Hel, um zu erkennen, ob der Angriff von Mercurin ausging oder von dem Dämon. Die Luft schmolz zwischen ihnen.

Alle Geisterwesen waren längst fort. Nur das Lirium war noch da, jetzt nicht mehr in zarten Adern, sondern in stürmischen Wirbeln, die wie Vulkane aus der Erde brachen und sich zu magischen Attacken ballten.

Mercurin verschwand beinahe ganz im Licht. Dann riss der Angriff abrupt ab und das Mädchen flog mehrere Meter zurück. Ächzend rollte sie über den Boden. Mercurin schritt auf sie zu, eine Hand ausgestreckt. Lirium waberte um seine Finger. Der Dämon kam wankend auf die Beine. Ein Ast schoss auf Mercurin zu. Er fuhr herum und wischte mit den Händen durch die Luft. Der Ast überschlug sich mehrere Male und donnerte haarscharf über seinen Kopf hinweg. Einen Herzschlag später erklang ein markerschütterndes Splittern. Hinter ihnen stürzte eine riesige Tanne um. Die Zweige waren seltsam grau, Wolken aus Asche wirbelten auf. Mercurin rannte zur Seite und riss Hel mit. Keuchend prallten sie gegen einen moosbewachsenen Fels. Die Erde bebte, als der Baum fiel. Die Zweige peitschten durcheinander wie dunkle Flammen und zerfielen zu Staub. Ehe Hel nach Luft japsen konnte, war Mercurin in die grauen Wolken eingetaucht.