Wieder strahlte Lirium auf. Ein heller Schrei ertönte, erst schmerzvoll, dann rasend vor Zorn. Hel sah, wie Mercurin in die Knie sackte. Windböen zerrten an ihm. Er streckte die Hände aus. Das Mädchen wirbelte herum, überschlug sich wie ein Stofffetzen im Sturm. Dann schlitterte sie über den Boden und blieb zuckend liegen.
Taumelnd stand Mercurin auf. Licht umwogte ihn. Langsam schleppte er sich auf den Dämon zu. Er keuchte. »Totumé ... Maeryn. Ilaid ny te ...«
Das Mädchen wimmerte. Aus weiten Augen starrte sie ihn an. »Bahayn ...«
Er hob die Hände zum Angriff.
Plötzlich stand ein Mann hinter dem Mädchen. Es war ein Ise. Hel wusste nicht, woher sie ihn kannte, doch sein Gesicht war ihr vertraut. Die lange Narbe vom Hals über die Wange – sie hatte ihn schon einmal gesehen.
Er riss die Augen auf. Ein starres Lächeln verzerrte seine Züge. Blitzend fegte sein Schwert durch die Luft und tötete den Dämon sofort.
Der Dämon
Mercurin schrie.
Kaum hatte die Klinge sich durch die Brust des Mädchens gebohrt, strahlte der Körper auf. Die Dunkelheit begann zu kochen. Abermillionen Funken peitschten kreischend hervor, zerrissen ihren Umhang, versengten ihr Haar. Dann strömte das Licht in den Isen.
Wogen schüttelten seinen Leib. Es sah aus, als würde ihn eine fremde Macht auf den Beinen halten. Seine Augen leuchteten auf und verloschen wie Kerzen im Wind.
»Wer bist du?«, rief Mercurin und schritt auf ihn zu. »Antworte!«
Der Ise stolperte röchelnd zurück. Er hob das Schwert, konnte es aber kaum ruhig halten.
Mercurin warf die Hand hoch und machte eine rasche Bewegung mit den Fingern. Lirium schoss aus der Erde auf den Mann zu. Brüllend flog er gegen einen Baumstamm und sank zu Boden. Wieder pochte ein dunkles Flimmern aus seiner Brust. Seine Glieder zuckten, dann war er wieder bei Bewusstsein. Entsetzt kroch er vor Mercurin weg. Sein Schwert hatte er verloren, sein linker Arm hing schlaff herab.
Mercurin stieß ein Knurren aus und hob beide Hände.
»Nein!« Hel rannte auf ihn zu. »Hör auf!«
Er sah sie an. Die Magie schoss aus der Erde an seinen Händen entlang und auf den Isen zu. Bäume und Pflanzen ringsum welkten wie Papier im Feuer.
Der Angriff verfehlte den Isen knapp; er kämpfte sich auf die Beine und taumelte in den Wald. Mercurin wollte ihm nachsetzen, doch da hatte Hel ihn bereits erreicht und hielt ihn fest. Entgeistert starrte er sie an. Einen Moment schien er sie gar nicht zu erkennen. Hel blickte ihm in die Augen und sah darin nur ihre eigene Reflexion.
»Hör auf«, keuchte sie. »Wieso ... du ... du bist kein Mörder -«
Seine Augenbrauen zuckten. Sie wusste nicht, ob er sie hörte, ob er sie verstand.
»Bitte«, wimmerte sie. »Sag mir, was das -«
Er packte sie an den Armen. »Was hast du hier verloren?«
Sein Griff war so fest, dass es wehtat. Sie stieg auf die Zehenspitzen. Sie konnte nicht antworten, wusste nicht, was. Das kalte Leuchten in seinem Blick wurde immer schwächer, und dann war er wieder der Junge, den Hel kannte, ihre lebendig gewordene Erinnerung. Sie sahen sich nur an, verwirrt und ungläubig, durch wütende, hilflose Tränen.
Er hatte ihr das Leben gerettet. Er war hier, um zu töten, doch er hatte sie vor dem Dämon gerettet. Hel wusste nicht, ob er besser verstand als sie, warum.
»Ich habe dir gesagt, dass du Aradon verlassen sollst«, stieß er hervor.
»Du ... bist einer.« Ihre Stimme versagte. Er erwiderte nichts. Alle Antworten lagen in seinen Augen.
Irgendwo waren Rufe. Die Gefährten. Mercurin fuhr herum. Aus der Dunkelheit kamen Nova und die Söldner angelaufen. Mercurin trat einen Schritt zurück und ballte die Faust.
»Nein«, japste Hel. Sie packte seine Faust mit beiden Händen und hielt sie fest. Seine Wimpern zitterten, als er sie ansah. Dann löste sich seine Faust, er berührte ihren Kopf, ihre Wange, ihren Hals ... Seine Hand schloss sich um ihren Hals, bis sie würgte.
Er schluckte. Öffnete den Mund. »Wenn du mir noch einmal in die Quere kommst, werde ich dich töten.«
Die Gefährten stießen entsetzte Rufe aus, als sie sie entdeckten.
»HEEEL!«
Mercurin ließ sie los. Im nächsten Moment war er davongestürmt, sein wehender Umhang ein Flicken in der Dunkelheit, der sich rasch verlor. Unfähig, sich zu regen, sah Hel ihm nach.
»Hel!« Nova stürzte auf sie zu. »Hel! Bei allen guten Geistern, bei ... bist du verletzt? Hel!«
Sie blinzelte sich die Tränen aus den Augen und versuchte ein Nicken. Es gelang ihr nicht. Doch als Nova sie umarmte, schaffte sie es wenigstens, wieder zu atmen.
Es dämmerte. Die ganze Welt schien wie in Rauchschwaden getaucht. Überall waren tote Bäume und Pflanzen, im Umkreis von hundert Schritten lagen Vögel, Eichhörnchen und Kaninchen im Moos verstreut, als wären sie vom Himmel geregnet. Hel begann bei ihrem Anblick zu zittern. Mercurin und das Dämonenmädchen hatten ihren Tod bewirkt. Sie konnte nicht in Worte fassen, wie dankbar sie war, dass der Kampf weit genug von den Gefährten entfernt stattgefunden hatte, um ihnen nicht auch das Licht zu rauben. Die Schmerzen, die Hel empfunden hatte, kamen ihr jetzt beinahe unwirklich vor – es wollte ihr nicht in den Sinn, dass sie überlebt hatte. Wieder. Auch wenn Mercurin sie gerettet hatte, war sie dem Angriff des Dämons länger ausgesetzt gewesen, als möglich sein konnte.
Sie musste an den Isen denken. Wie war er so nah an den Kampf herangekommen? Hatte er nicht wie die Tiere gespürt, wie ihm sein Licht entzogen wurde? War er dem Schmerz zum Trotz näher gekommen, um das Mädchen zu töten? Nachdem das merkwürdige Licht aus ihr in ihn hineingeströmt war, war sein Entsetzen aber so groß gewesen, dass Hel nicht glauben konnte, dass er gewusst hatte, was er tat.
Ob Mercurin ihn eingeholt hatte? Ob er ihn ... Sie schüttelte den Kopf. Sie wollte nicht daran denken. Doch das Bild kehrte immer wieder zu ihr zurück: Mercurin, wie er die Hände hob, um den Dämon zu attackieren und dann den Isen. Wie er die Hände gehoben hatte, um ein Leben auszulöschen. Seine Miene war ohne Regung gewesen.
Aber als er sie angesehen hatte ... da war so viel, so viel in seinem Blick gewesen, ein ganzes Meer, das sie nur durch einen Brunnenschacht erspähen konnte. Und er hatte sie gewürgt. Sie spürte seinen Griff noch an ihrem Hals. So wie die Berührung an ihrer Wange. Plötzlich war sie sicher, dass, falls seine Hand an ihrem Hals blaue Flecken hinterlassen hatte, auch ihre Wange gezeichnet sein musste – dass seine Gewaltsamkeit nicht mehr Spuren hinterlassen konnte als die Zärtlichkeit. Zitternd berührte sie die Stellen, doch sie fühlte ihre eigene Hand kaum, war seltsam taub.
Olowain und die Gesandten traten an den Leichnam des Mädchens heran. Dort, wo das Schwert sie durchbohrt hatte, war ein Brandloch. Ihr Gesicht war eingefallen und grau wie Asche. Die Augen hinter den halb geschlossenen Lidern waren vollkommen lichtlos. Sie wirkte, als wäre sie nicht letzte Nacht, sondern schon vor langer Zeit gestorben.
Später fühlte Hel sich so weit, den anderen zu erzählen, was passiert war. Sie saßen unter einem großen Felsen, eine Stunde östlich von dem Schauplatz des Kampfes. Nova hatte darauf bestanden, Hel zu tragen, sich jedoch überreden lassen, sie wieder abzusetzen, sobald es bergauf ging. Dass die Anstrengung ihn so schnell umgestimmt hatte, schien ihn jetzt zu beschämen – jedenfalls verhielt er sich, als müsste er etwas wiedergutmachen, und bemutterte Hel, wo er nur konnte. Sie musste erst ein neues Feenlicht umlegen und etwas essen und trinken, damit er halbwegs Ruhe gab. Doch auch danach erntete jeder einen bösen Blick von ihm, der sie mit Fragen belästigte.
Gefasst berichtete Hel, was vorgefallen war. Sie versuchte, nichts auszulassen – alles, woran sie sich erinnerte, gab sie wieder. Sie gestand, dass Mercurin derjenige war, der sie in der Wüste gefunden und gerettet hatte. Nur was sie sich gesagt und wie sie sich angesehen hatten, behielt sie für sich. Das war etwas, das ihr niemand erklären konnte, auch Olowain mit dem Wissen der Magierschaft nicht.