Nur eins musste sie Olowain fragen. Sie wagte nicht, ihn anzusehen, als sie sagte: »Ich habe die Dämonen miteinander sprechen gehört, in einer anderen Sprache. Ich weiß nicht, welche. Meister Olowain, vielleicht wisst Ihr, was es bedeutet – einer der Dämonen sagte etwas wie: Maeryn, ilaid ny te.«
Olowain richtete sich auf. »Was? Bitte sag das noch einmal.«
Hel schluckte. Leise wiederholte sie die Worte.
Olowain ging drei Schritte, blieb stehen und stapfte zurück. Bleich vor Schreck starrte er Hel an. »Bist du sicher, dass es diese Worte waren?«
Hel nickte zögernd.
»Hat das Mädchen auch etwas gesagt?«
»Ja ... ich erinnere mich nicht genau, was. Sie sagte ... ein Wort, ich glaube Bahayn oder so ähnlich.«
»Bahayn«, murmelte Olowain. Dann legte er die Stirn an seinen Stab, als müsste er sich konzentrieren.
»Wieso, was bedeutet das Wort denn?«, fragte Harlem. »Zwergisch ist es jedenfalls nicht. Obwohl – Bhrya, das bedeutet Bruder bei uns ...«
Olowain sah sie aus blanken Augen an. »Ja. Bruder. Bahayn bedeutet Bruder. In der Alten Sprache.« Er sah in die Runde. »Die Dämonen haben die Alte Sprache benutzt.« Er stand eine Weile an seinen Stab geklammert da, darauf wartend, dass seine Stimme wiederkehrte. »Die Dämonen kommen aus dem Alten Reich.«
Hel starrte auf ihre Hände hinab. Das ergab Sinn. Darum hatte Mercurin so wenig von der Welt gewusst. Darum hatte er so viel verschwiegen. Wahrscheinlich war er in der Wüste über die Kauenden Klippen gekommen. Und dann hatte er zufällig die Schwalbe gesehen -
Sie presste sich die Handflächen auf die Augen. Er hatte sie getötet. Sie hatte es nicht wahrhaben wollen, bis jetzt hatte sie den Gedanken erfolgreich von sich weggeschoben. Aber jetzt konnte sie sich nicht mehr belügen. Mercurin hatte alle auf der Schwalbe getötet. Er war Gharras und Jurebas Mörder.
Hel atmete heiser aus.
»Wisst ihr, was das heißt?«, stammelte Olowain. Er rieb sich die Stirn, begann wieder, auf und ab zu gehen. »Das Alte Reich ... das Alte Reich! Aber was wollen sie, ausgerechnet jetzt? Ich brauche meine Bücher ...« Er blieb stehen und starrte sie an, als hätte er vergessen, dass er nicht alleine war. »Wir müssen los. Sofort!«
»Wohin?«, fragte Arill.
»Nach Moia!«, stieß Olowain aus, als sei das selbstverständlich. »Mein Bücherschrank steht noch dort. Los, es ist keine Zeit zu verlieren!«
Sie rappelten sich auf, und Hel bedeutete Nova, dass sie alleine gehen konnte. Allerdings ließ er es sich nicht nehmen, ihren Beutel zu tragen.
»Meister Olowain?«, fragte Hel leise. Er war bereits losgegangen und warf ihr einen Blick über die Schulter zu.
»Wisst Ihr, was die Worte bedeuten? Die der Dämon gesagt hat?«
Olowain ging langsamer. »Maeryn, ilaid ny te, richtig? Maeryn heißt Schwester. Ilaid ... ilaid ... es könnte von Ilaedas kommen. Vergebung.«
Hel sah nach vorne. Trotzdem verschwamm der Wald vor ihren Augen.
Vergebung ... Also hatte er wirklich vorgehabt, sie zu töten.
Seine Schwester.
Sie rasteten spät und brachen früh wieder auf. Hel schlief nicht. Wenn sie die Augen schloss, sah sie ihn vor sich, so vertraut und mit der grausamen Wahrheit im Blick. Seine Hand an ihrem Hals. Und er hatte gesagt ...
Hel folgte den anderen durch die dunklen Wälder, Schluchten und Täler und war doch allem fern. Nicht einmal ihre Müdigkeit nahm sie wahr. Nur ein Zittern überkam sie immer wieder, als wollte sie etwas abschütteln, das sich nicht abschütteln ließ. Wenn sie die Blicke der Gefährten auf sich spürte, tat ihr leid, dass sie nicht sprechen konnte. Aber sie waren in einer anderen Welt, die nur zufällig neben ihrer lag. Vor allem Novas sorgenvolle Anteilnahme ließ sich nur schwer ertragen. Manchmal machte er den Mund auf und war kurz davor, sie etwas zu fragen, wandte sich aber dann wieder ab und schwieg. Vielleicht ahnte er ja, dass sie keine Antwort würde geben können, dass ihr Kopf leer war. Doch sie bezweifelte, dass irgendjemand nachvollziehen konnte, was sie empfand. Sie selbst wusste es ja kaum. Sie dachte über nichts nach, war sprachlos. Nur Augenblicke blieben ihr, in die sie wieder und wieder zurückfiel. Seine Hand an ihrem Hals. Wenn du mir noch einmal in die Quere kommst ...
Gharra und Jureba und all die Sturmjäger. Wie er sie berührt hatte, an der Schläfe, als sie sich in Har’punaptra verabschiedeten. Und sein Lächeln, wenn er gar nicht lächeln wollte, das Grübchen in seiner Wange. Und wie er das Mädchen durch die Luft geschleudert hatte, das er seine Schwester nannte.
In ihren Träumen sah Hel wieder Menschen sterben. Es waren die alten Schreckensvisionen, die sie seit ihrer Kindheit verfolgten. Die Erde riss unter ihren Füßen auf, alle stürzten in den gierigen Schlund, und Schmerzen glühten in ihr auf, so wie der Schmerz, den das Dämonenmädchen verursacht hatte. Doch diesmal wurden nicht nur Fremde vom Boden verschlungen. Es waren die Sturmjäger der Schwalbe. Hilflos sah Hel zu, wie sie fielen, nur sie selbst blieb in Sicherheit. Sand kam und begrub Gharra und Jureba und die anderen lebendig, bis ihre Schreie erstickten. Hel schwebte über ihnen und konnte nichts tun; sie schwebte reglos inmitten leuchtender Sandkörner, die Mercurin in den Nachthimmel blies.
Eines Morgens, als Hel erwachte, hörte sie, wie die Gefährten über sie sprachen. Kelda teilte das restliche Fleisch aus, das sie gestern gebraten hatten, und murmelte dabei Olowain zu: »Ist es möglich, dass der Dämon Hel irgendeinen Schaden zugefügt hat, der nicht sichtbar ist? Er hat sie immerhin angefasst ...«
»Sie hat selbst gesagt, sie sei unverletzt«, erwiderte Olowain leise.
»Vielleicht weiß sie es selbst nicht«, gab Kelda zurück. »Gibt es Magie, die einen langsam vernichtet?«
»Gewiss ... aber angesichts der Kräfte, die die Dämonen offensichtlich besitzen, wieso sollten sie da auf etwas Derartiges zurückgreifen?«
»Hel hat den Mörder ihrer Familie gesehen«, mischte sich Harlem ein. »Den Mörder, den sie in der Wüste für ihren Retter gehalten hat. Was erwartet ihr denn, dass sie singt und springt?«
»Ich frage mich«, murmelte Arill, »wieso der Dämon sie am Leben gelassen hat. Schon damals in der Wüste. Und wieso er sie nach Har’punaptra gebracht hat. Wenn es wirklich stimmt.«
»Was soll das heißen?«, sagte Nova aufgebracht. »Hel ist keine Lügnerin. Wenn sie sagt, dass es so war, dann war es auch so.«
»Irgendeinen Zweck muss er jedenfalls verfolgt haben«, sagte Relis.
»Und wir werden dahinterkommen«, versicherte Olowain. »Aber erst, wenn wir wissen, was die Dämonen überhaupt wollen. Ich habe bereits eine Eilige Feder nach Aradon geschickt, damit man mit der Ermittlung beginnt. Ich kann nicht hoffen, Licht in die Angelegenheit zu bringen, bevor ich nicht meine Bücher habe ... Also dann, lasst uns aufbrechen, Freunde.«
Hel tat, als würde sie erst erwachen, als Olowain sie an der Schulter berührte. Doch dann begegnete sie Harlems Blick. Die Zwergin ging an ihr vorbei und drückte kaum merklich ihre Hand.
Die Tage verflogen. Als sie irgendwann auf eine Ader stießen, wusste Hel nicht, wie lange sie schon unterwegs waren. Sie hatte einfach nicht darauf geachtet.
Am Abend kamen die Wrauden zu ihnen. Wie auch immer sie mit Kelda kommunizierten, sie schienen auf sie gewartet zu haben. So wie früher ritten sie die Nächte durch.