Als Hel auf dem Rücken der Wraude saß, nichts als Dunkelheit und Wind um sich, kamen endlich die Tränen, die so lange in ihr gewartet hatten. Alles stürzte über ihr zusammen, die Erinnerungen an den Ritt auf dem Lymaerus in der Wüste und die vielen Abende, die sie im Mastkorb verbracht hatte. Sie wollte vor allem fliehen, alles vergessen. Sie grub die Finger ins weiche Fell der Wraude, beugte sich tief über sie und ließ zu, dass der Wind die kostbaren paar Tränen fortzog.
Bald kamen sie an Dörfern und kleinen Städten vorbei, wo sie Proviant kaufen konnten. An vielen Orten waren Schilder aufgestellt, die den Zutritt für Isen verboten.
Doch sie sahen auch Dörfer, die offensichtlich erst vor Kurzem Schauplatz von Kämpfen gewesen waren. Einmal preschten sie an einer kleinen Stadt vorbei, aus der wilde Isengesänge und Trommeln wehten. Pfeile hagelten ihnen entgegen. Die Wrauden wichen erschrocken zur Seite und tauchten in den Wald. Trotzdem sah Hel, dass an den Bäumen vor den Häusern Gestalten hingen ... erhängte Menschen.
Ihr Magen verkrampfte sich. Bis jetzt hatte sie die Isen nur als Opfer gesehen, aber nie als Täter. Das änderte sich auf ihrer Reise nach Osten. Als sie Moia erreichten, konnte niemand mehr bestreiten, dass der Aufstand des Isenvolks begonnen hatte. Am Horizont blühten Rauchsäulen und rote Feuer. Scharen von bewaffneten Isen auf Pferden – manchmal auch auf Wrauden – preschten durch das Land, raubten, mordeten und rächten Taten, die sie längst selbst begangen hatten. Büßen mussten dafür die Isen, die schon auf der Flucht waren. Hel kam es vor, als würde es auf beiden Seiten immer die Unschuldigen treffen.
Dann erschien Pellinar vor ihnen. Jahre schienen vergangen zu sein, seit sie zuletzt hier gewesen waren. Die Tore waren niedergerissen, die Häuser lagen in Trümmern und Asche. Ein paar Isenkinder ergriffen die Flucht, als sie die Gefährten aus dem Wald reiten sahen. Sonst war niemand weit und breit. Sie galoppierten vorüber, ohne anzuhalten.
Am nächsten Morgen erreichten sie den Hof von Moia. Soldaten fingen sie vor den Klippen ab. Als Olowain sich zu erkennen gab, wurden sie ins Schloss geführt. Trotzdem mussten sie in einem windigen Hof warten, bis der König persönlich die Erlaubnis erteilte, dass auch Kelda vorgelassen wurde.
In der Kaminhalle stürzten ihnen Meisterin Medeah und Neremias Nord entgegen.
»Olowain!«, rief Medeah atemlos, hatte aber nur Augen für Nova. Nicht sicher, wie sie sich verhalten sollte, blieb sie vor ihm stehen und schluckte.
Kapitän Nord trat an ihr vorbei und schloss ihn so fest in die Arme, dass er fast zur Seite kippte.
»Was hast du bloß getan«, keuchte Neremias. »Einfach so zu verschwinden und deinen alten Vater allein zu lassen -«
»Aber ... du warst doch in guter Gesellschaft.«
Sie grinsten sich schniefend an und umarmten sich wieder, ungeachtet der Blicke, die auf ihnen ruhten.
»Erzählt mir alles, was vorgefallen ist«, sagte Medeah. »Ruht euch aus – ich lasse sofort die Lager herrichten. Setzt euch, esst!«
Sie befahl den Dienern, Speise und Trank zu bringen. Erschöpft ließen sie sich auf den Stühlen nieder. Dann gab Olowain wieder, was sie erlebt hatten. Medeah nickte gefasst. Sie hatte von der Magierschaft erfahren, dass die Dämonen aus dem Alten Reich stammten.
»Ich kann noch nichts Genaues sagen«, seufzte Olowain, »doch ich habe einen Verdacht. Einen sehr dunklen Verdacht ... wir werden sehen. Ich muss meine Bücher befragen. Ihr habt doch meinen Schrank gut gehütet?«
»Er ist sicher verwahrt«, erwiderte Medeah. »Ich habe das Schiff Tag und Nacht bewachen lassen.«
Olowain nickte dankbar. »Dann würde ich gerne sofort hingehen.«
»Seid Ihr nicht müde von der Reise?«
»Doch. Aber es eilt. Ich möchte keine Zeit verlieren.«
Während das Mahl aufgetischt wurde und sie sich stärkten, erzählte Medeah, was sich indessen in Moia zugetragen hatte. Seit der Verkauf von Lirium an Isen untersagt worden war, hatte es immer mehr kriegerische Auseinandersetzungen gegeben. Inzwischen konnte niemand mehr sagen, wie viele Dörfer und Städte in den Händen der Rebellen waren. Sie hatten Festungen erstürmt und plünderten die Bauern aus. Man munkelte noch immer, dass Mutter Meer kommen würde, doch bis jetzt schienen die Rebellen eher in viele kleine Banden aufgeteilt, zwischen denen keine Verbrüderung herrschte. Es sollte sogar schon vorgekommen sein, dass Isen gegen Isen gekämpft hatten.
»Doch nun ziehen immer mehr Richtung Aradon«, fuhr Medeah fort. »Es heißt, sie wollen die Magierschaft stürzen und die Türme in Brand setzen, damit unser Wissen für immer verloren ist.«
Olowain schüttelte bekümmert den Kopf. »Manchmal denke ich, die Errungenschaften der Kunst und Wissenschaft sind an uns alle verschwendet. So töricht, wie der Pöbel sich aufführt ... die Türme in Brand setzen! Das würde ihnen recht geschehen, den Wilden. Wo wären sie denn ohne unser Wissen? Auf ihren Inseln wie die Tiere!«
Kelda erhob sich und machte eine tiefe Verbeugung. »Meisterin Medeah, erlaubt mir, mich zu verabschieden.«
»Du willst gehen?«, fragte Hel.
»Meine Aufgabe ist erfüllt, wenn ich mich nicht irre. Danke für alles. Und viel Glück.« Er sah Hel an, dann die anderen Gefährten. Er nickte ihnen zu.
»Wie, du gehst für immer?«, fragte Olowain überrascht.
»Gibt es denn noch einen Grund zu bleiben?«, erwiderte Kelda ruhig.
Olowain wischte sich den Mund ab und drehte sich ganz zu dem Isen um. »Und ob, mein Freund. Ich möchte, dass du nach Aradon mitkommst. Du sagtest doch, dass du den Aufstand der Isen voraussahst. Dass er kommen würde, mit oder ohne Mutter Meer. Nun, ich habe einmal den Fehler begangen, dich nicht nach deiner Meinung zu fragen. Noch einmal wird das nicht geschehen. Ich möchte, dass du unser Experte für das Isenproblem wirst, der Magierschaft treu ergeben.«
Eine Weile stand Kelda reglos auf der Stelle. Dann verbeugte er sich wieder. »Wie Ihr wünscht. Dann erlaubt mir, mich zum Schlafen zurückzuziehen. Ich bin müde.«
Medeah winkte einen Diener herbei, um ihn zu seinem Lager zu führen.
Nach dem Mahl legten auch die anderen Gesandten sich schlafen – nur Olowain bat, dass man ihn zu seinem Schrank aufs Schiff brachte. Jeder bekam eine eigene Kammer mit einem Bett und Waschzeug. Doch Hel war zu erschöpft, um jetzt zu baden. Schmutzig wie sie war, ließ sie sich auf ihre Matratze sinken und schloss die Augen. Nachdem sie eine Stunde nur dalag, ohne an etwas zu denken, fiel sie in einen tiefen, traumlosen Schlaf.
Mutter Meer
Karat stürzte blind durch den Wald. Er hatte sein Araidann verloren. Doch der Junge war nicht mehr hinter ihm, er hatte ihn abgehängt ... und sein Schwert hätte ihm auch nichts genützt, der Junge war ein Magier, ein Dämon wie das Mädchen. Wie hätte Karat ahnen können, dass es zwei gab?
Das änderte alles. Wieso hatten sie sich bekämpft? War ihr Treffen vereinbart gewesen? Und war Karat nur der Spur des einen Dämons gefolgt oder beiden? Mehr als je zuvor in seinem Leben wollte er begreifen, was vor sich ging, und verstand so wenig. Ihm war, als irrte er durch ein feinmaschiges Gespinst aus Rauch.
Keuchend schleppte er sich über das Geröll. Blut rann ihm unter dem Brustpanzer hinab. Er hatte sich irgendetwas gebrochen, als er gegen den Baum geschleudert worden war. Er konnte die linke Schulter nicht bewegen. Doch es war keine Zeit, sich die Verletzung anzusehen. Karat wusste nur eins: dass er wegmusste, so schnell wie möglich, so weit wie möglich.
Heftiger Schwindel ergriff ihn. Die Welt verwischte vor seinen Augen. Ein Pochen ging durch seine Brust, schwer und tief wie ein Paukenschlag ... irrte er sich oder stieg tatsächlich ein dunkles Licht aus seinem Körper auf ... Er verlor das Gleichgewicht und stürzte zur Seite. Neben ihm fiel ein Hang ab. Er rollte durch Moos und Laub, bis er in einer dunklen, feuchten Klamm zwischen Steinen liegen blieb. Das Pochen riss ihm langsam die Brust auf. Das Letzte, woran er sich erinnerte, war das aufgerissene, halb gefressene Kaninchen, das er gefunden hatte. Dann sank er in Ohnmacht.