Выбрать главу

Ihr Weg führte sie in einen Schacht zwischen hohen Felsen, die über ihnen immer enger wurden, sodass nur ein dünner Vorhang Licht herabfiel. Im Boden waren überall Vertiefungen, in denen dampfendes Wasser blubberte. Kleine Ströme und Rinnsale liefen durch das Gestein.

»Hier«, sagte Mutter Meer und brachte Karat zu einem Teich. Weißer Kalk überzog die Steine, das Wasser wirkte wie Glas. Vorsichtig kniete Karat nieder und tauchte einen Finger hinein. Das Wasser war heiß. Aber nicht kochend, wie er fast befürchtet hatte. Angenehm.

»Wir warten unten auf dich. Nimm dir so viel Zeit, wie du willst.« Mutter Meer gab ihren beiden Begleitern ein Zeichen, mitzukommen.

»Wartet. Kannst du mir ein Feenlicht borgen, solange ich hier bin? Ich will nicht überrascht werden, wenn ich da reinsteige.«

Mutter Meer lachte. Sie hatte ein dunkles Lachen, das von tief innen zu kommen schien. »Wir benutzen kein Zauberwerk der Magierschaft. Und hier braucht auch niemand Feenlichter. In Naruhl erwacht das Land nie zu Leben ... wusstest du das denn nicht?«

Karat sah sie skeptisch an.

»Du kannst mir vertrauen«, sagte sie schlicht. Dann drehten sie sich um und ließen ihn allein. Er sah ihnen nach, wie sie hinter Licht und Dampf verschwanden.

Wohlig warm und sauber kehrte Karat zurück. Mutter Meer, Saion und Hyrab saßen auf einem breiten Felsblock und schliffen ihre Waffen. Als sie Karat kommen sahen, erhoben sie sich.

»Hast du Hunger?«, fragte Mutter Meer und stand schon auf.

Inzwischen hatte es zu dämmern begonnen. Der Himmel hinter den Baumwipfeln färbte sich violett und die ersten Sterne leuchteten auf. In weiter Ferne hallten Vogelrufe wider, doch Karat sah kein Tier in der Nähe. Ihm fiel auf, dass nicht einmal Grillen zirpten. Dabei wucherte überall dichtes Gras. Vielleicht war es schon zu kalt für Grillen. Ihr Atem gefror in der Luft.

Sie gingen durch einen bogenförmigen Eingang und stiegen Stufen empor, über und über mit Laub und Moos bedeckt. Kunstvolle Schnörkelmuster bedeckten die Wände und ließen das späte Abendlicht ein. Die Treppe mündete in einen hohen Flur, der hier und da zu Terrassen, Balkonen und überdachten Brücken auswuchs. Karat fühlte sich, als würde er in ein verlassenes Königreich eindringen. Die Vergangenheit herrschte aus dem Schatten heraus, und obwohl dieser Herrscher stumm war, regierte er mit eiserner Hand über sein Reich.

Schließlich erreichten sie eine Türöffnung, die von Efeu umwachsen war. Sie traten durch das dichte Blätterwerk und gelangten in einen niedriger gelegenen Raum, in dessen Mitte ein Feuer loderte. Es war angenehm warm hier drinnen.

Mehrere Dutzend Männer und Frauen saßen um das Feuer herum auf Fellen und geflochtenen Matten. Karat blieb stehen, als er die Fremden sah. Er hatte keineswegs erwartet, so vielen Rebellen zu begegnen. Auf den ersten Blick schätzte er, dass es fünfzig waren, vielleicht noch mehr. Als sie Mutter Meer bemerkten, begrüßten sie sie mit allen Dialekten der Inseln.

Sie ging an den Kriegern vorbei, die ihr Platz machten, nahm Hände, teilte sanfte Worte aus – gab jedem das Gefühl, eine ganz besondere Verbindung zu ihr zu haben. Karat glaubte es ihr fast.

Am Feuer rutschte man zusammen, damit Mutter Meer und ihre Begleiter sich setzen konnten. Schalen mit gebratenem Fisch, gesalzenem Dörrobst, Handbrot und Kichererbsenpaste wurden ihnen gereicht. Mutter Meer bot das Essen erst Karat, Saion und Hyrab an, ehe sie sich selbst etwas nahm. Sie kaute ruhig und schluckte hinunter. Als sie mit gekreuzten Beinen dasaß und in die große Runde blickte, wurde es still.

»Dies ist Karat.«

Aller Augen waren auf ihn gerichtet. Er maß die Rebellen. Manche sahen aus wie echte Krieger. Er sah ihnen an, dass sie töten konnten, schon getötet hatten. Andere waren Flüchtlinge und würden immer Flüchtlinge bleiben. Die Waffen, die sie trugen, änderten daran nichts. Dennoch sah Karat in allen Gesichtern denselben Hass, still und tief. Hier war niemand aus falschem Heldentum. Das erleichterte ihn.

»Er hat uns nicht gesucht. Wir haben ihn gefunden. Er ist ein Kopfgeldjäger.« Mutter Meer sah ihn an. Ihr Blick war wie eine Umarmung, die einen vergessen ließ, dass noch jemand anderes anwesend war. »Und er ist unser Bruder.«

Karat schauderte, ohne zu wissen, warum. Er konnte ihrem Blick nicht ausweichen, bis ihn jemand am Arm berührte. Erschrocken fuhr er herum. Eine junge Isin reichte ihm einen Wasserkrug.

»Willkommen«, sagte sie. Karat nahm den Krug an und dankte murmelnd.

Irgendwo in der Menge begann jemand, eine kleine Trommel zu schlagen. Bald erhob sich Gesang aus allen Ecken, ein wehmütiger Kriegschor. Es wurde getrunken und gegessen. Gespräche stiegen hie und da auf, doch die meisten Stimmen fügten sich in den Gesang ein. Karat aß die isischen Speisen, blickte ins große, prasselnde Feuer, lauschte den Liedern und fühlte plötzlich, wie es ihm die Kehle zuschnürte. Er presste die Augen zu.

Erinnerungen gossen auf ihn herab wie heißes Wachs. Alles fühlte sich so schrecklich vertraut an, als würde die Vergangenheit aus ihrem Grab steigen, ein Gespenst aus welken Blumen und Leichengeruch.

Karat spürte, dass Mutter Meer ihn beobachtete. Er versuchte zu zeigen, dass er nur Schmerzen in der Schulter hatte. Ein paar Isen erhoben sich und tanzten zum Rhythmus der Trommeln. Mit geschlossenen Augen wiegten sie sich vor und zurück, zogen ihre Waffen und stießen sie in die Luft. Eine alte Frau begann, Parolen auszurufen. Ihre Worte wurden so leidenschaftlich, dass Karat Tränen fließen sah. Andere klatschten im Takt. Mutter Meer legte den Kopf zurück und drehte ihn langsam. Ihre breiten Schultern zitterten mit der Musik. Leise Worte lagen auf ihren Lippen, Schwüre, Verwünschungen, Gebete vielleicht. Dann sah sie Karat an und wurde sehr ernst. In diesem Moment war ihm, als wüsste er alles über sie und die Rebellen. All ihre Beweggründe. All ihre Träume. Wie viel sie zu opfern bereit waren. Die ganze Wahrheit lag in der Musik und in den meerfarbenen Augen ihrer Anführerin.

»Wie heißt du?«, fragte Karat. Obwohl die Trommeln ihn übertönten und sie ihn unmöglich gehört haben konnte, zog sie ihr Araidann und schrieb mit der Schwertspitze einen Namen in die Asche. Karat legte den Kopf schief, um zu l esen. Oyara.

Totenlichter

Ein Klopfen an der Tür weckte Hel. Verschlafen richtete sie sich auf und nuschelte: »Ja?«

Ein Diener trat ein. »Guten Morgen. Die Taube ist startklar und wird in einer halben Stunde abheben.«

Verwirrt blickte Hel aus dem Fenster. Es war früher Morgen. Hatte sie seit gestern Nachmittag durchgeschlafen? Sie wusste nicht, wann sie zuletzt so lange am Stück weggenickt war. Aber sie hatte es bitter nötig gehabt. »Wir verlassen Moia schon?«

»Meister Olowain sagt, es eilt.«

Hel trat die Bettdecke zurück. »In Ordnung. Ich bin gleich fertig.«

Der Diener zog sich zurück.

Hel bespritzte sich Gesicht, Hals und Nacken mit Wasser aus der Waschschüssel. Mit den feuchten Händen fuhr sie sich durch die Haare und drückte sie glatt. Einigermaßen erfrischt trat sie aus ihrem Zimmer. Im Flur warteten die Söldner und Kelda mit dem Diener. Nicht viel später kamen Harlem und Nova aus ihren Zimmern. Gemeinsam stiegen sie die runde Treppe zum Dach des Turms empor. Tatsächlich war alles für ihren Abflug bereit. Die Sturmjäger begrüßten sie herzlich und zogen die Planke ein, sobald sie an Bord waren. Kapitän Nord stand am Steuer und blickte der steigenden Sonne mit einem wehmütigen Lächeln entgegen. Als die Gesandten zu ihm traten, zwinkerte er. »Guten Morgen, die Herrschaften! Alles bereit für die Reise? Es wird windig. Also gut festhalten.«

Dann fuhr er Nova durch die Haare und seufzte. »Es wird Zeit, dass du sie dir zurückbindest oder schneidest, meinst du nicht?«