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In der Ferne stand eine Gestalt. Der Umhang flatterte im Nachtwind. Langsam schritt die Gestalt die Dünen herab. Nun konnte Hel sie auch mit ihrem gesunden Auge sehen, vom bleiernen Licht des Mondes umrissen.

Der Fremde ging um die Trümmer. Sein Blick erkundete alles, doch er fasste nichts an, kam nicht näher, blieb nicht stehen. Ruhig setzte er seinen Gang fort. Wie lange war er schon da? War er überhaupt da? Hel wusste es nicht mehr, sie sah so vieles, so vieles ... Jureba und ihr Buch, das blaue Lieblingsbuch mit den Flecken. Eine Erde, die sich auftut und weiches Frauenhaar in die Tiefe reißt. Sandwogen, die in den Himmel schießen, durch die Luft flatternde Spielkarten und Gesichter, einst vertraut und nun wie Papiermasken zerfetzt -

Plötzlich knarrte und schabte es. Bewegung brach aus. Dann wurde etwas Schweres zur Seite geschoben. Kalte Helligkeit ergoss sich über Hel. Hände schoben sich unter ihren Körper und hoben sie aus dem Sand. Endlich fiel der Druck von ihrer Brust. Sie schnappte nach Luft, hustete, würgte. Feiner Staub rieselte aus ihrem Mund und Klumpen aus Sand.

»Du lebst«, schwamm irgendwo eine Stimme, fern und doch nah. Hel folgte dem Echo, das bald in der Dunkelheit abtauchte wie ein Schwarm weißer Fische.

Sie träumte. Sie sah die Schwalbe vom Himmel stürzen, aus der Ferne wirkte der Fall beinahe gemächlich. Sandwolken geleiteten das Schiff zur Erde. Zärtlich zerdrückten die lebendigen Dünen das Holz, ehe die Kiefer mitten im Kauen die Kraft verloren, der Sandmund aufklappte und die Zunge schlaff ins zertrümmerte Schiffsinnere glitt. Der Mond ging unter. Als der Tag nahte, ragte der zerborstene Bauch der Schwalbe aus dem Sand wie ein Gerippe. Das Leben, das das Schiff aus der Luft gerissen und Hels Welt zerschmettert hatte, war geisterhaft verschwunden, so wie es gekommen war.

Hel träumte von einer Kiste voll Stroh, in der sie lebendig begraben war und geschaukelt wurde. Sie tippte mit den Fingern gegen ihr Gesicht, immer einer nach dem anderen, um die Zeit zu messen. Doch bald wusste sie nicht mehr, wie oft sie schon beide Hände durch hatte, und wie viele Finger es in der Dunkelheit überhaupt gab. Auge hatte sie nur eins. Nur eins. Ein Auge und ein Loch, gefüllt mit pochendem Schmerz.

Draußen redeten die Zwerge von einem verfluchten Kind, von einem Kind, das doch eigentlich tot sein müsste mit einer so grässlichen Verletzung – dass die Verletzung grässlich schnell heilte, gewiss war sie verflucht. Hel nannten sie sie: Licht. Aber so hieß sie nicht wirklich. Sie hatte ihren Namen nur vergessen. Vor nicht langer Zeit hatte sie ihn doch noch gewusst ... Ein schwarzer Schlund im Boden hatte ihn gefressen, zusammen mit ... ja, was? Was hatte sie noch verloren außer einem Auge und der Erinnerung?

Sie schwankte in der Dunkelheit, kannte keine Zeit und hatte Schmerzen ...

Jemand bettete sie behutsam auf schwarzes Tuch, das vielleicht der Himmel war. Ein Geruch ging davon aus, kaum wahrnehmbar, mehr Aura als Duft. Etwas Vertrautes aus einer fremden Welt.

Feines Klirren. Hel blinzelte und stöhnte auf, als ihr Rücken brannte. Irgendwo war Tageslicht. Kam das Stechen von Sonnenstrahlen? Konnte Licht Splittern gleich verletzen?

Eine Hand berührte ihre Haut. Eine Hand streifte flüchtig ihre Wange, bevor sie ihre Kleider aufschnitt.

Als sie zu sich kam, war es Nacht. Ein harter Boden drückte gegen ihre Knochen und irgendetwas war um ihren Oberkörper gewickelt. Sie wollte stöhnen, doch ihre Lippen waren zu trocken, um sich voneinander zu lösen. In der Nähe schwebte Helligkeit. Ihr wurde schwindelig, sie musste die Augen schließen.

Jemand war über ihr: Die zweite Sicht zeigte ihr das Licht seines Lebens. Er berührte ihren Mund. Wasser glitt ihren Hals hinab. Sie zwang sich aufzublicken, doch nur der Rand einer Kapuze war auszumachen. Finger hoben ihren Nacken und halfen ihr beim Trinken.

Sie wollte etwas sagen, aber schon zog eine neue Ohnmacht herauf. Fiebrig klammerte sie sich ans Bewusstsein. Als die Gestalt sich abwandte, glitt der Lichtschein unter die Kapuze und offenbarte für eine Sekunde das Gesicht. Hel sog zitternd die Luft ein.

Augen trafen sie ins Herz und explodierten zu Unendlichkeit, grau und blau wie Himmel und Meer, und sie segelte überstürzt in einen jäh hereinbrechenden Schlaf.

Der Durst weckte Hel. Ihr Körper schmerzte vor Trockenheit. Mit einem papierartigen Geräusch rissen ihre Lippen auseinander. Wasser. Sie brauchte Wasser.

Ächzend drehte sie sich zur Seite und zog die Knie an, stützte sich auf die Arme und saß schließlich aufrecht. Wenigstens halbwegs.

Funken tanzten vor ihren Augen, und das lag nicht nur daran, dass ihre Augenklappe weg war und die zweite Sicht sie durcheinanderbrachte. Als das schwindelige Flimmern endlich verebbte, sah sie sich um.

Sie war in einer Höhle. Mächtiger Fels beugte sich über sie, durch den hier und da Lirium pulsierte. Links konnte sie den Himmel erkennen, bestäubt mit blassen Sternen.

Wo war sie? Und seit wann – und wie ...?

Erst jetzt wurde ihr bewusst, dass sie in einen Umhang gehüllt war. Verwirrt hielt sie den dunklen Stoff hoch. Er roch nach Wüste und etwas Vertrautem. Hel schüttelte den Kopf. Wahrscheinlich war sie nur schon mehrere Stunden damit zugedeckt und hielt den schwachen Geruch deshalb für bekannt. Sie schob ihn von sich weg und merkte, dass ihre Kleider fehlten. Der Schreck durchfuhr sie fast schmerzhaft. Sie trug nur noch ihre Stiefel und die kurze Leinenhose. Ihr Oberkörper war bandagiert.

Fröstelnd zog sie die Knie an und blickte in alle Richtungen. Wer hatte sie verbunden?

Sie rappelte sich auf und biss die Zähne zusammen, als ein Stechen durch ihre Rippen fuhr. Gut möglich, dass etwas gebrochen war. Mühevoll kam sie auf die Beine. Einen Moment lang stand sie nur da, schlang die Arme um ihre Rippen und schloss die Augen. Verfluchte zweite Sicht! Überall sah sie Leben leuchten. Wenn sie doch ihre Augenklappe oder irgendwas aus Silber gehabt hätte. Wankend kletterte Hel aus der Höhle nach draußen.

Der Wind heulte, sonst störte kein Geräusch die schlafende Welt. Ihre unbeholfenen Schritte schienen Hel unnatürlich laut. Sich an der Felswand abstützend, stakste sie ein Stück durch die Dunkelheit. Der Mond lag irgendwo hinter dem Geröll verschüttet und blich den Himmel aus, doch hier unten gab es kaum Konturen. Hel stolperte und riss mit ihren Füßen Steinbrocken aus dem Boden, denn der sandige Fels war weich und leicht zu brechen. Schließlich erreichte sie einen Vorsprung, auf dem ein einzelner Felsbrocken lag, wie von einem Riesen hingeworfen. Hel ließ sich mit dem Rücken dagegensinken und verschnaufte nach dem Laufen. Sie kniff die Augen zu, versuchte, das ferne und nahe Glimmen so gut es ging zu ignorieren. Sie musste nachdenken. Sich konzentrieren. Alles der Reihe nach.

Die Schwalbe war abgestürzt. Sie hatte gesehen, wie Jureba ... vom Sand ... Wie hatte der Sand so weit in die Höhe schießen können? Das Land war tot gewesen, seit Tagen hatte sie kaum Anzeichen von Lirium entdecken können. Und selbst wenn das Land plötzlich lebendig geworden war, konnte eine solche Menge Sand unmöglich in den Himmel jagen und ein Schiff verschlingen. Deshalb waren Schwebeschiffe ja die sicherste Art zu reisen. Das Land fraß, was ihm über das Gesicht lief, aber im Himmel gab es keinen Boden, der sich auftat. Nur eins konnte einem Schiff gefährlich werden, und zwar ein Sturm. Ein Liriumsturm. Was die Schwalbe angegriffen hatte, war etwas anderes gewesen. Der Sand hatte sich von der Erde gelöst wie eine abgehackte Faust, die dennoch die Kraft besitzt, etwas zu zerquetschen. Es ergab keinen Sinn.

Eine Weile ließ sie den Blick durch die Nacht schweifen. So zeitlos, wie die Landschaft vor ihr lag, kam sie Hel wie ein Wandbild vor. Es konnte nicht echt sein. Das alles konnte nicht wirklich passiert sein.