Dieser Gedanke beschäftigte Hel, bis sie Olowains Tür erreichten. Nova klopfte an, doch von drinnen kam keine Antwort.
»Er schläft.« Nova zuckte die Achseln und trank die Milch.
Hel klopfte noch einmal an. Dann drückte sie die Türklinke hinunter und öffnete einen Spalt. »Meister Olowain?«
Das Bett war leer. Es sah nicht aus, als hätte letzte Nacht jemand darin gelegen. Hel begriff auch, warum: Inmitten einer Festung aus Schubladen, in die der magische Schrank sich verwandelt hatte, lag Olowain, die Arme über seinen Schreibtisch und ein Dutzend Bücher gebreitet. Ringsum schwebten Folianten in der Luft und blätterten leise ihre Seiten um. Tropfen aus Licht glitten suchend die Zeilen entlang und träufelten hie und da Helligkeit auf ein Wort.
»Meister Olowain?«, wiederholte Hel. Sie schob die Tür noch ein Stück auf und trat ein.
Sobald ihr Fuß aufsetzte, schnappten alle Folianten zu. Schubladen schnellten zurück, der Schrank verschachtelte sich wie eine eiserne Mauer. Auch das Buch, auf dem Olowains Kopf lag, schlug zu. Ein verblüffter Schmerzenslaut erstarb in den knisternden Seiten. Nach mehreren solcher schmachvollen Ohrfeigen hatte Olowain sich endlich aufgerappelt. Das Lesegestell rutschte ihm von der Nase, und er fing es mit einer Hand auf, ehe es zwischen die schnappenden Buchdeckel geraten konnte. Dann bemerkte er Hel in der Tür. Hel wurde rot.
»Entschuldigung«, stammelte sie. »Äh ... Frühstück?«
Unentschlossen blieb sie zwischen Tür und Angel stehen und entschied sich dann, den Teller lieber auf dem Boden abzustellen, statt ganz einzutreten.
»Was geht hier vor?« Olowain richtete sein Lesegestell auf sie. »Tretet nie, niemals unaufgefordert ins Zimmer eines Magiers ein! Seid ihr denn törichte Kinder?!«
Weil weder Hel noch Nova eine Antwort einfiel, rieb Olowain sich die Stirn und seufzte tief. »Also schön. Schön. Wie spät ist es?«
»Morgen. Wir haben Frühstück für Euch«, sagte Hel.
Er warf einen Blick auf den Teller. Dann winkte er Hel, damit näherzukommen. Vorsichtig ging sie zu ihm.
»Danke dir«, murmelte Olowain und ließ sich in seinen Stuhl zurückfallen. Er wirkte furchtbar müde. Seine Augen waren blutunterlaufen und das Lesegestell hatte rote Ränder in sein Gesicht gedrückt. »Hast du auch etwas Wasser für mich?«
»Wir haben Milch. Nova?«
Er stand im Flur und wischte sich den Milchbart ab. »Oh ... ich hol welche.« Eilig lief er mit dem leeren Krug davon. Olowain nahm den Stab in die Hand, der neben ihm stand, und ließ die Tür zufallen. Dann zog er den Teller heran und aß. Hel hatte ihn nie so wenig auf seine Tischmanieren achten sehen. Mit gebeugtem Rücken schaufelte er sich Rührei und Speck in den Mund und schluckte, fast ohne zu kauen. Als Nova zurückkehrte, spülte er alles mit der Milch hinunter und tupfte sich die Mundwinkel mit einem Taschentuch ab.
»Da du schon einmal hier bist«, sagte er dann zu Hel, »ich würde gerne mit dir sprechen.« Er beäugte Nova. »Wärst du so gut und bringst das Geschirr weg?«
Nova nahm den Teller und Becher entgegen. »Dann ... bis nachher.«
»Ich komme gleich nach«, versprach Hel.
Als Nova das Zimmer verlassen hatte, ließ Olowain mit einem raschen Schwenk seines Stabs einen zweiten Stuhl vor den Tisch gleiten. »Bitte, setz dich.«
Hel setzte sich. Olowain legte die Fingerspitzen aneinander und schloss für eine Weile die Augen. Nichts war zu hören außer dem kurzen Klacken eines Schlosses, das der Schrank offenbar zu schließen vergessen hatte.
Dann sagte Olowain: »Bitte beschreibe noch einmal genau, was du gesehen hast, als der Ise den Dämon getötet hat. Beschreibe die Lichter.«
Hel versuchte, sich die Bilder ins Gedächtnis zu rufen. Es war so schnell gegangen. Trotzdem schilderte sie alle Details, die ihr einfielen. Olowain unterbrach sie nicht. Erst als sie geendet hatte, schlug er die Augen auf. Eine tiefe, beängstigende Sorge lag in seinem Blick, und Hel fürchtete, dass sie irgendeinen schlimmen Verdacht bestätigt hatte.
»Du bist ganz sicher«, sagte Olowain mit wankender Stimme, »dass im Augenblick seines Todes Licht aus dem Dämon geströmt ist ... in den Isen?«
Hel zögerte. »Doch. Ja.«
Olowain stand auf und ging rastlos durch den Raum. »Der zweite Dämon, der, der dich in der Wüste gefunden hat ... hat er sich nie verdächtig verhalten?«
Hel dachte an seine Magie. An den Zwischenfall in der Windigen Stadt. Seine morgendlichen Gebete.
»Ich, vielleicht ... ich ... weiß nicht.«
Olowain bewegte sich noch immer zwischen Bett und Schrank. »Wieso hast du der Magierschaft nicht schon früher davon erzählt?!«
Nun sah Hel ihn fest an. »Es gab genug Beweise dafür, dass die Dämonen existieren. Ihr wart derjenige, der das alles als Spuk abgetan hat.«
Er funkelte sie an. »Der Isenaufstand hat unsere Ermittlung in die falsche Richtung gelenkt! Wenn aber nun das Alte Reich seine Finger im Spiel hat ... nun, dann ist das etwas ganz anderes. Das bedeutet weitaus größere Probleme ... weitaus größere.«
Er blieb stehen und biss sich auf den Zeigefinger. Dann sah er Hel an und ließ sich langsam wieder auf seinen Stuhl sinken. »Ich werde dich einweihen, Hel«, sagte er zögernd. »Es ist leichter so, und es geht um zu viel. Aber du musst bei deinem Leben schwören, dass du Schweigen bewahrst. Verstehst du das? Absolutes Schweigen!«
Hel sah ihn ernst an. »Ich schwöre es, Meister Olowain.«
»Kein Wort zu deinem Freund Nova.«
»Ich habe bereits geschworen«, sagte sie.
Olowain atmete flach aus. »Ich habe Grund zu der Befürchtung, dass die Dämonen hinter etwas her sind. Mächtige Gegenstände, in Vergessenheit geraten und selbst bei den Gelehrten zu Mythen verblasst. Die tödliche Magie der Dämonen, die alles Leben aufsaugen kann, und das Licht, das vom einen in den anderen übergegangen ist, als er ihn tötete – all dies weist darauf hin, dass es sie wirklich gibt ... ihre Herzen.« Seine Stimme war immer leiser geworden, sodass Hel sich nicht sicher war, ob sie ihn richtig verstanden hatte.
»Herzen?«, wiederholte sie.
Olowain erhob sich wieder und trat an das Bullaugenfenster, über das Wassertropfen flohen. Er verschränkte die Hände auf dem Rücken. »Damals, im Krieg zwischen Druiden und Magiern, ergriffen die Druiden eine letzte, fatale Maßnahme. Ihr Weltreich war längst auseinandergebrochen, die Fortschritte der Magierschaft ließen sich nicht länger aufhalten; Wissen lässt sich nie aufhalten. Also verwendeten die Druiden ihre verbliebenen Kräfte darauf, sich zu rächen. Oder vielleicht war es auch ihr fanatischer Glaube, der ihnen befahl, die ›abtrünnigen Kinder‹ der Erde zu strafen. Es heißt, die letzten mächtigen Druiden opferten sich dem Tiefen Licht.«
»Was ist das?«, fragte Hel.
Er blinzelte; fast schien es, als hätte er vergessen, dass er mit jemandem sprach und nicht nur laut dachte. »Das Tiefe Licht, so nennen die Druiden die Quelle allen Liriums, tief im Kern der Erde. Alles Leben stammt aus der Erde, steigt auf und flößt den Tieren, Pflanzen und Dingen Licht ein. Für die Druiden ist es eine Art bewusstes Wesen, eine Gottheit, die segnen und strafen kann, die angebetet und gerächt werden muss.« Er schnaubte leise. »Jedenfalls steht in den Überlieferungen, dass die Vier Druiden jener Tage ihr Leben dem Tiefen Licht opferten, um fortan als Dämonen durch die Welt zu irren. Als seelenlose Hüllen für eine göttliche Macht richteten sie überall Zerstörung an, bis das Tiefe Licht sie ganz verzehrt hatte. Etwas von ihnen aber blieb übrig. Ein letzter Rest Menschlichkeit vielleicht oder ihre Seelen; in den alten Schriften werden sie Nyr’Hel genannt. Totenlicht. Doch der Name spielt keine Rolle. Nach dem Verfall ihrer Körper blieb dieses Unsterbliche, das ihrem Glauben nach jedes Lebewesen besitzt, mit dem Tiefen Licht vereint. Die Totenlichter tragen die ganze Macht des Tiefen Lichts in sich, sind direkte Verbindungen zur Urquelle von Lirium, die sich im Erdkern regt. Und die Totenlichter sind ewig, unzerstörbar durch die Seelen der geopferten Druiden.«