Er holte zitternd Luft. Hel konnte nicht glauben, dass ausgerechnet Meister Olowain solche Geschichten erzählte – und allem Anschein nach glaubte. Es machte ihr Angst. Bang wartete sie darauf, dass er eine trockene Erklärung hinzufügte, irgendetwas Verständiges sagte, das das Ganze als Ammenmärchen abtat. Doch er fuhr fort: »Die Totenlichter blieben dort, wo die Druiden ihr letztes Leben aushauchten. Dort ruhen sie noch immer, pochende Herzen unter der Erde, darauf wartend, dass jemand sie ausgräbt und findet. Wer sie trägt, wird eins mit dem Lebendigen Land. Doch wie die Vier Druiden von damals lässt man immer mehr von sich selbst zurück. Je stärker das Tiefe Licht wird, je größer die Macht, umso geringer wird der Mensch. Bis nichts mehr bleibt. Außer einem Dämon.«
Ihre Hände krallten sich um die Armlehnen. Alles, woran sie denken konnte, war Mercurin.
»Das Licht, das du gesehen hast, als der Dämon getötet wurde, ist wahrscheinlich ein Totenlicht gewesen. Und es ist in den Isen hineingeströmt. So wie du den folgenden Kampf zwischen ihm und dem anderen Dämon beschrieben hast, hätte ihn ein gewöhnlicher Mensch nicht überleben können. Es ist davon auszugehen, dass die Totenlichter also nicht nur existieren, sondern auch übertragbar sind, durch das Töten des Vorgängers. Und der neue Träger ist ein Ise.« Er wandte sich vom Fenster ab und blickte Hel an. »Verstehst du, was das bedeutet? Die Druiden aus dem Alten Reich, die vermutlich die jahrhundertealte Rache dort fortsetzen wollen, wo sie zuletzt geendet hat, sind eine ernst zu nehmende Gefahr für Aradon. Doch von den Druiden gibt es immer nur vier. Die Isen sind aber direkt unter uns. Wenn sie die Macht des Totenlichts für sich entdecken, wenn sie sie in ihrem irrsinnigen Kampf einsetzen ...« Seine Lippen zitterten. »Wir müssen sofort handeln. Verstehst du?«
Hel schluckte trocken. »Und was sollen wir tun?«
Er blickte wieder aus dem Fenster. Der Regen war stärker geworden und floss ruhelos über das Glas. »Zuerst einmal müssen wir uns besprechen. Die Magierschaft, meine ich«, murmelte er. »Und ich muss in die Bibliothek. Weiterrecherchieren. Aber es wird darauf hinauslaufen, dass wir den Isen finden müssen, der nun ein Totenlicht trägt. Das ist das Wichtigste. Und darum weihe ich dich in alles ein.« Er senkte den Kopf und seufzte wieder. »Du bist die Einzige, die sein Gesicht gesehen hat. Es scheint, deine Augen werden immer kostbarer für uns.«
Hel starrte zu Boden. Eine plötzliche, alles erdrückende Erschöpfung befiel sie. Sie wollte nicht mehr. Sie wollte nichts zu tun haben mit all diesen Dingen. Sie hatte keine Lust, irgendwelche Totenlichter oder Isen zu finden. Sie war nicht einmal davon überzeugt, dass es notwendig – und richtig – war. Zugleich wusste sie, dass sie keine Wahl hatte. Sie biss die Zähne zusammen. Tief im Inneren ahnte sie, dass sie in jedem Fall etwas tun würde, das ihr falsch vorkam.
»Sobald wir Aradon erreichen -« Plötzlich unterbrach ihn ein Ruf aus dem Gang.
Es war einer von den Sturmjägern: »He, Nova!«
Olowain fuhr herum und hatte blitzschnell seinen Stab gepackt. Im nächsten Moment flog die Tür auf, Nova fiel ins Zimmer und landete auf dem Teppich. Hochrot starrte er zu Olowain auf. Der Magier starrte kreidebleich zurück.
»Du – du hast wieder gelauscht!«, stieß er hervor.
»Ähm. So würde ich es nicht nennen.« Nova lächelte. »Ich bin zufällig vorbeigeko-«
»Zufällig?« Olowain packte seinen Stab mit beiden Händen. »Jetzt wagst du auch noch zu lügen, du unverschämter Bengel!«
»Aber nein – ich, also, ich bin gegangen. Und dann bin ich in der Küche gewesen. Und dann wollte ich Euch Wasser bringen, weil Ihr wolltet ja Wasser trinken. Und dann bin ich hergekommen, aber die Tür war zu, und ich wollte Euch nicht stören, also habe ich ge-«
»Genug!«, herrschte Olowain ihn an. »Einmal ist genug. Diesmal werde ich ...«
Ruhig erhob Hel sich und trat vor Nova. »Nova hat längst bewiesen, dass er jedes Vertrauen verdient, das auch ich verdiene. Wenn Ihr wollt, dass ich Euch helfe, den Isen zu finden, dann dürft Ihr Nova nichts antun.«
»Aber – das ist doch -« Sprachlos blinzelte Olowain sie beide an. »Ungeheuerlich!«
Hel drehte sich zu Nova um und grinste. »Du weißt wirklich immer, wie du alle zur Weißglut treiben kannst, ohne Ärger zu kriegen, oder?«
Er grinste zurück, nicht ohne Olowain einen unsicheren Blick zuzuwerfen, und räusperte sich. »Ich sag ja ... ein Junge mit vielen Talenten ...«
Krieg
Die Tage blieben stürmisch. Wenn es nicht regnete, stiegen dampfende Nebelschwaden aus den Hügeln auf und hüllten die Taube ein wie in Watte. Manchmal konnte man vom Steuerrad aus kaum bis zum Bug sehen. Die ganze Welt schrumpfte auf den Umkreis von ein paar Metern zusammen. So musste das Nichts aussehen, dachte Hel, das irgendwo jenseits des Meeres und hinter den letzten Landstreifen lauerte. Ewiger Dunst ... ob ein Mensch hineinlaufen konnte? Würde man selbst zu Nichts werden, wenn man das Ende der Welt erreichte?
Sie ging die Reling des gesamten Schiffs entlang und streckte die Hand aus, als könnte der Nebel irgendwo greifbar werden. Doch er verschwand zwischen ihren Fingern; er machte alles unsichtbar und war dabei selbst unsichtbar. Die Feststellung faszinierte Hel und sie konnte eine Weile an nichts anderes denken.
Dann rissen die Wolken unter ihr auf und ein einziger Fleck Grün tauchte auf. Hel blieb stehen und beobachtete, wie er vorüberzog. Es war, als würde sie die gesamte Erde aus einer unmöglichen Ferne sehen, winzig und vollkommen allein in der Leere.
Später fragte sie Olowain, was hinter dem Alten Reich lag. Sie saßen mit ein paar Sturmjägern, den Söldnern und Kelda im Esszimmer, spielten Karten und tranken Tee. Als Hel ihre Frage stellte, erwachte Olowain aus den Gedanken, die ihn schon seit einiger Zeit abwesend aus den Fenstern starren ließen.
»Was meinst du?« Er räusperte sich. »Hinter dem Alten Reich?«
»Ja, ich meine ... ist da ein Meer? Oder geht das Land weiter? Wer hat die Grenzen da gezogen, wo sie sind, und warum?«
Alle blickten Hel groß an. Nur Kelda schien nicht verwundert, dass sie diese Dinge plötzlich wissen wollte. Er nippte an seinem Tee und wandte sich Olowain zu, um seine Antwort zu hören.
»Hohe Berge liegen nördlich von Hellesdîm.« Olowain bemerkte, dass Hel die Stirn runzelte, und erklärte: »Hellesdîm sind die Heiligen Hallen, wo die Druiden leben. Es ist der nördlichste von Menschen bewohnte Punkt der Erde. Was dahinter liegt, ich weiß es ehrlich gesagt nicht. Nicht viele Bücher beschäftigen sich mit dem Thema, und die wenigen, die es tun, sind eher poetischer Natur, nicht auf Fakten begründet, nicht ernst zu nehmen. Angeblich steigt das Land immer höher, riesige Gebirge ragen in den Himmel, und die Berggipfel, die das Ende der Welt markieren, berühren die Sterne.«
Schweigend blätterte Hel durch die Spielkarten auf dem Tisch. Alle waren nachdenklich geworden.
»Hm«, machte einer der Sturmjäger. »Glaubt Ihr denn daran, Meister Olowain?«
Olowain lehnte sich zurück und ließ mit der Antwort auf sich warten. Schließlich murmelte er: »Es klingt wie ein Märchen, und wahrscheinlich ist es eins, von den Druiden erfunden. Doch ... da niemand diese Gegend je bereist hat, kann ich auch nicht sagen, dass es nicht stimmt. Ich weiß es nicht.« Er seufzte und schien mit einem Mal sehr erschöpft. »Wer weiß schon etwas wirklich.«