Palairon und seine Berater ließen sich Zeit. Draußen verdüsterte sich der Himmel. Hel merkte gar nicht, wie dunkel es geworden war, bis plötzlich rings um die Halle Lichter aufglommen. Auch bei den anderen Türmen flammten Leuchtkugeln auf. In der Finsternis sah sie, wie das Pentagon der Magierschaft über den Dächern rotierte, unheimlich beleuchtet wie leere Augen.
Hel fröstelte. Hätte sie doch ihren magischen Umhang mitgenommen.
Dann endlich erschienen Palairon und die Vertreter der Türme. Die Menge verstummte und wich zurück. In der Mitte der Halle erhob sich auf einen Schwenk von Palairons Stab eine Plattform, um die sich Stufen wanden. Die Magier stiegen empor, bis sie über den anderen thronten und jeder sie sehen konnte.
Die kühle Brise zerrte an Palairons geflochtenem Bart und löste einzelne Strähnen. Er sah aus, als könnte er Schlaf und einen Kamm vertragen. Die anderen Magier machten keinen besseren Eindruck, doch während sie vor Erschöpfung deutlich ermattet waren, glomm in Palairons Augen ungebrochene Tatkraft.
Er hob die Hände. »Brüder und Schwestern, Freunde aus der Liga! Wir haben schlechte Nachrichten zu verkünden. Der Aufstand der Isen hat sich weiter nach Osten und Norden ausgebreitet. Zwar scheint noch keine Einigkeit unter den Rebellen zu herrschen, doch das mag sich ändern. Wie ihr wisst, geht das Wort um, eine gewisse Mutter Meer warte darauf, Isen gegen Menschen anzuführen. Ein Motiv außer blinder Zerstörungswut und Völkerhass hat sich noch nicht abgezeichnet. Aber diese niederen Triebe könnten Gesinnung ersetzen, wenn sich die einzelnen Gruppen unter einem Führer zusammentun. Oder wenn sich ein Verbündeter findet, der mächtig genug ist, alle Rebellen um sich zu scharen.« Er seufzte laut. Ihm schien die Luft ausgegangen zu sein. Stille setzte ein, während Palairon angestrengt auf den Boden starrte. Dann hob er den Blick zu einem fernen Punkt jenseits der Halle. »Es scheint, als hätte sich ein neuer und zugleich alter Feind gegen uns erhoben: das Alte Reich.« Er sagte es so leise, dass viele ihn nicht hören konnten. Bewegung brach in der Menge aus, als man sich näher an das Podest herandrängte. Palairon atmete so tief ein, dass seine ganze Gestalt sich zu vergrößern schien. »Meister Olowain, der das Rätsel um die abgestürzten Schiffe und überfallenen Dörfer lösen sollte, hat Folgendes in Erfahrung gebracht: Der Dämon existiert und er ist nicht allein. Es gibt mindestens zwei. Wahrscheinlich mehr.«
Eine Böe fegte durch die Halle. Kleider und Haare rauschten wie bunte Fahnen, doch Hel hätte schwören können, dass sonst keiner einen Muskel bewegte.
»Sie sind in Aradon eingedrungen, um einen dunklen alten Zauber zu wirken, den ich nicht weiter beschreiben kann. Er wird keinem von euch bekannt sein und würde nur unnötige Ängste schüren. Bitte schenkt den Gerüchten keinen Glauben, die bald in Umlauf sein werden; die Wenigen, die eingeweiht sind, schweigen. Was auch immer ihr hören mögt, wird in jedem Fall erfunden sein.« Er nickte, wie um seine eigenen Worte zu bestätigen. »Welche Absichten das Alte Reich verfolgt, ist uns noch nicht bekannt. Wir können zwar davon ausgehen, dass ihre Ziele keineswegs friedlicher Natur sind, doch wir wollen ihnen ein Angebot machen, als Zeichen des Entgegenkommens nach Jahrhunderten des Schweigens. Darum schicken wir hier und heute drei Federn an das Alte Reich!« Eine der Magierinnen neben ihm öffnete eine Schatulle, und Palairon nahm drei Eilige Federn heraus, um sie für alle sichtbar emporzuhalten. »Dies, Freunde, ist ein historischer Augenblick. Es ist die erste offizielle Kontaktaufnahme zum Alten Reich seit mehr als fünfhundert Jahren. Mögen die, die heute hinter den Kauenden Klippen herrschen, unsere Nachricht empfangen. Denn Folgendes richtet die Magierschaft von Aradon ihnen aus: Überführt uns eure Dämonen – mit den magischen Waffen, die sie suchen. Dann wird der Schaden, den sie angerichtet haben, ohne Folgen bleiben. Wenn nicht ... erklärt die Magierschaft von Aradon mit großem Bedauern und zum ersten Mal seit ihrer ehrwürdigen Gründung – Krieg!«
Sturmjäger wie Magier stießen verblüffte Laute aus. Selbst Hel hätte diese Reaktion nicht erwartet. Es war immer ein Grundsatz der Magierschaft gewesen, nie selbst in einen Krieg verwickelt zu werden; sie hatte stets vorgegeben, über den fein gesponnenen politischen Netzen der Königreiche zu stehen. Doch im Falle des Alten Reichs war es wohl anders. Es war der erste und einzige Feind, den die magisch entwickelte Welt je gehabt hatte.
Palairon ließ die Federn los. Ungeduldig begannen sie, um sich selbst zu rotieren, bis er befahclass="underline" »Nach Norden, über die Kauenden Klippen, nach Hellesdîm! Wenn dort kein Empfänger zu finden ist, kehrt unverzüglich zurück.«
Die Federn schossen in die Nacht davon. Hel sah ihnen nach, drei Flecken Rot, die rasch wie Blutstropfen im Dunkel versanken.
Nach der Kundgebung rief Palairon sie zu sich. Als er erfuhr, dass Nova fehlte, verhärtete sich sein Gesicht. »Dann holt ihn auf der Stelle!«, knurrte er, beauftragte aber dann eine junge Magierin damit und ließ die Gefährten bei ihm warten.
Sie befanden sich in einem Raum direkt hinter der offe – nen Halle. Ein Eichenholztisch stand in der Mitte, umringt von Ledersesseln. Dass es keine Fenster gab, verstärkte nur, dass Hel sich unwohl und eingesperrt fühlte.
Schweigend stand Palairon am Ende des Tisches, die Hände vor sich aufgestützt, und wartete. Als die Tür endlich aufging und Nova eintrat, hob er nur den Blick.
Nova deutete eine Verneigung an. »Guten ...«
»Wieso warst du nicht bei der Verkündung?«, schnappte Palairon.
Die Begrüßung blieb Nova im Hals stecken. Er schluckte. »Verzeihung, ich ... habe geschlafen.«
»Geschlafen?« Palairon rieb sich knurrend die Stirn und wandte sich mehrmals von Nova ab, nur um ihn gleich darauf wieder zu fixieren. »Dass dieser Junge eingeweiht ist, das fasse ich nicht ... also gut, hör zu: Wenn irgendetwas an die Öffentlichkeit dringt, wenn du auch nur ein Sterbenswort sagst, und sei es deiner senilen Großmutter, dann werde ich persönlich dafür sorgen, dass du für den Rest deines Lebens stumm und taub wirst! Und der Prozess wird schmerzvoll sein.«
Wie erstarrt stand Nova in der Tür. Hel rutschte in ihrem Sessel herum. »Ihr müsst ihm nicht drohen, Meister Olowain. Er wird ganz sicher -«
»Du sprichst nur, wenn du gefragt wirst«, fuhr der Vorsitzende dazwischen. Hel ballte die Hände unter dem Tisch, doch sie zwang sich, nicht die Augen zu senken.
Palairon atmete scharf durch die Nase ein und bedeutete Nova, sich zu setzen. Hel merkte, dass Olowain sie ansah – er zuckte entschuldigend die Schultern und wandte sich dann wieder Palairon zu. Der Vorsitzende war der Einzige, der noch nicht Platz genommen hatte. In seiner ganzen einschüchternden Kompaktheit stand er vor ihnen, lebhafte Röte im Gesicht, und musterte sie wie ein Lehrer seine Schüler.
»Ich mag keine langen Reden, also gleich zum Punkt: Olowain war mit jedem von euch sehr zufrieden, darum wird die Gesandtschaft so bleiben, wie sie ist. Auch weil jeder von euch Dinge weiß, die zu geheim sind, um euch gehen zu lassen. Ihr werdet den Isen aufspüren, der den Dämon getötet hat.«
Hel sah sich in der Runde um. Sie erkannte, dass die anderen ratlos waren – es wusste ja niemand von den Totenlichtern außer ihr, Nova und Olowain.
Arill begann sich zu bewegen und räusperte sich leise. »Ähm ... warum?«
»Weil es von höchster Wichtigkeit ist.« Palairon ließ die Faust auf den Tisch krachen. »Für die Magierschaft und für alle Verbündeten Aradons.«