»Du bist weit von deiner Heimat weg, Bruder.« Sie zögerte, trat ein paar Schritte zurück, wie um ihm Raum zu lassen. »Es steht dir ins Gesicht geschrieben, dass du am Leben leidest. Du tust nicht, was du wirklich tun willst. Du bist nicht, wer du wirklich sein möchtest. Aber es ist so wichtig, sich selbst zu lieben. So wie als wir Kinder waren.« Sie sprach sehr leise. Karat starrte sie an. Niemand sonst hätte so lächerliches Zeug sagen können, ohne dabei seine Würde zu verlieren. Er zwang sich, nicht darauf hereinzufallen. Dass alles, was Oyara sagte, so wahr klang, lag nicht an ihren Worten, sondern ihrer Art. Er musste sich immer daran erinnern.
»Du bist wirklich die geborene Anführerin«, schmunzelte er.
»Wir sind alle geboren für irgendwas, meinst du nicht?«
»Nein.« Er betrachtete ihr Gesicht auf der Suche nach Bestürzung, Enttäuschung, Wut. Aber sie war verdammt gut. »Du kannst mir deine schönen Träume nicht verkaufen. Ich habe Leute getötet, deren Leben ebenso belanglos war wie ihr Tod.«
»Ihr Tod war nicht belanglos«, erwiderte sie prompt. »Sieh nur, welche Wirkung sie auf dich hatten.«
»Gar keine.«
Sie hielt den Atem an. »Wieso lässt du dir keine Zeit, um über dein Leben nachzudenken?«
Er hörte seine eigenen Zähne knirschen. Er hatte es ja gewusst – sie waren alle gleich, die Fanatiker, und wollten einen nur bekehren. Aber er brauchte niemanden, der ihm sagte, was er zu tun hatte, er brauchte keine Mutter, er war ein Mann, ein erwachsener Mann.
»Ich muss mich ausruhen«, sagte er. »Dann seid ihr mich schneller los.«
Er hob dankend die Hand mit der Muschel und verließ den Raum. Oyara hielt ihn nicht zurück.
Karat hatte gehofft, dass man ihm Essen in seine Kammer bringen würde, wenn er nicht zum gemeinsamen Mahl erschien. Doch er wartete vergebens und sein Bauch rumorte vor Hunger. Schließlich schwang er sich von seiner Pritsche und schlich in die große Halle. Schon aus der Ferne fiel ihm auf, dass es ungewöhnlich ruhig war. Als er eintrat, richteten sich alle Blicke auf ihn: Offenbar hatte er gerade Mutter Meer in einer ihrer Erzählungen unterbrochen. Sie wies ihn an, bei ihr am Feuer Platz zu nehmen. Mit einem unwohlen Gefühl ließ er sich nieder. Dann nahm er sich aus einer Schale gebratenes Fleisch und begann zu essen.
»Nach den Wochen auf hoher See bist du also in Kapua angekommen ... und dann?«, fragte jemand hinter ihm, und Karat glaubte einen Moment, er sei angesprochen – dann begriff er, dass Mutter Meer gemeint war.
Sie räusperte sich. »Genau. Damals hatte die Magierschaft gerade ein Verbot erlassen, dass verhindern sollte, dass noch mehr Kinder von den Inseln nach Moia verschleppt wurden. Das war, bevor der Krieg seinen Höhepunkt erreichte, der bald folgen und jedes Verbot, jeden Anstand nichtig machen sollte. Jedenfalls nahmen damals viele Schmuggler den Weg an der Küste entlang bis nach Kapua, wie viele von euch wissen. Dort waren die Augen der Magierschaft weniger wachsam. Wir gingen als importierte Weine durch. Drei Kinder in jedem Fass.« Sie lachte freudlos. »Dann ging es natürlich auf schnellstem Weg nach Moia, in die Kriegsgebiete. Sie haben mir ein stumpfes Messer in die Hand gedrückt und mich in eine Stadt gejagt, um zu töten und zu plündern. Ich habe weder das eine noch das andere gekonnt. Als ich aus der Nacht erwachte, war ich in Blut gebadet und am Leben. Ich konnte nicht töten und doch stach meine Hand zu. Ich konnte nichts rauben und doch brachte ich meinen Herren die Besitztümer der Leichen. Es dauerte lange, bis ich begriff, dass ›ich‹ gar nicht mehr da war. Da war nur noch ein Körper.«
Zustimmung ebbte aus allen Richtungen heran. Auch Verwünschungen und Flüche gegen die Bleichen. Oyara betrachtete ihre Hände und ihr Gesichtsausdruck war so gefasst und ruhig wie immer – als würde sie nur eine Gutenachtgeschichte erzählen. »Ich lernte ein Mädchen kennen. Ich weiß nicht mehr, wie lange wir Seite an Seite gekämpft haben, ohne uns zu bemerken. Wir waren ja alle nur Schatten des anderen. Irgendwann trafen sich unsere Blicke. Lange haben nur unsere Augen miteinander gesprochen, für Wochen vielleicht. So habe ich langsam mich selbst wiedergefunden. Ich wusste, dass ich noch da war – dass es etwas gab, das dieses Mädchen sehen konnte. Für sie war es genauso. Später haben wir darüber geredet. Eines Tages durchsuchten wir ein Haus. Im Keller fanden wir Bücher. Ich kannte damals nur einzelne Wörter der Menschensprache. Das Mädchen war noch jünger als ich, aber sie hatte bereits länger gekämpft, und sie sprach die Sprache der Bleichen. Sie nahm ein Buch mit. Darum nahm ich auch eins. Irgendeins, welches, war egal. Von da an trugen wir die Bücher mit uns. Wie Talismane. Zeichen für unsere heimliche Schwesternschaft. Ich beobachtete, wie sie begann, in ihrem Buch zu lesen. Ich brachte den Mut auf, sie zu fragen, ob sie lesen könne. Sie sagte, sie lerne es, sie schaue sich die Bilder an. Wir sahen sie uns zusammen an. Es war ein Buch über Heilkunst und Pflanzen. Auch Menschen mit Verletzungen waren abgebildet. Wir lernten viel, allein indem wir die Zeichnungen betrachteten. Zum ersten Mal spürte ich, dass Wissen Macht ist. Ich fühlte, dass ich weniger Angst hatte, seit ich wusste, welche Kräuter Blutungen stoppen, was man tun muss, wenn man sich etwas verstaucht, wie man einen abgehackten Arm abbindet, um nicht zu verbluten. Wir waren unseren Meistern nicht mehr hilflos ausgeliefert. Es war ein ruhiges, aber überwältigendes Glück. Ein lautlos explodierender Stern.«
Karat beobachtete sie. Oyara untermalte ihre Erzählung mit kleinen Gesten, und wieder war er fasziniert, wie sie so gefühlsselig und kindisch reden konnte, ohne dabei so zu wirken. Er musste sich an seinem ganzen Spott festhalten, um nicht auf sie hereinzufallen.
»Und was stand in deinem Buch?«, fragte jemand.
»Nun ... das erfuhr ich erst später. Ich konnte noch nicht lesen, ich lernte es erst allmählich mit meiner heimlichen Schwester. Nachts, wenn der Mond hell genug war, oder tagsüber, wenn wir schlafen sollten. Wir suchten nach anderen Medizinbüchern mit Bildern, damit wir uns retten konnten. Meine Schwester interessierte sich sehr dafür und sie lernte schneller als ich. Heute ist sie eine Heilerin. Eine der besten, die ich kenne. Sie hat mir oft das Leben gerettet.« Einen Moment schwieg sie, in Erinnerungen versunken. »Als ich besser lesen konnte, fing ich mit meinem ersten Buch an. Es waren alte Legenden. Anfangs fand ich sie sinnlos und behielt das Buch nur, weil es mein Talisman war. Doch eines Tages begriff ich, dass darin der Schlüssel zu einer ganz anderen Macht liegt ... Verständnis. Ich musste verstehen, woran die Bleichen glaubten, nach welchen Traditionen und Werten sie lebten. Um einen Feind zu vernichten, muss man ihn kennen. Ich las die Legenden, danach andere Geschichten, Gedichte, ich lauschte auf ihre Lieder und nahm alles in mich auf. So lernte ich, nach welchen Gesetzen ihre Welt aufgebaut war. Oder vielmehr, nach welchem einen Gesetz.«
»Gier!«, rief jemand. Ein anderer: »Es gibt nur das Gesetz des Stärkeren bei ihnen. In ihren Augen gibt es so viel Leben, dass ein einzelnes Leben nicht zählt!«
Oyara nickte bitter. »Je mehr es von etwas gibt, umso weniger ist es wert. Ich habe gelernt, dass Besitz alles ist in ihrer Welt. Und ich meine nicht nur Geld und Güter. Die Könige haben ihren Adel, ihre Schlösser, ihr Gold und ihre Ländereien. Doch wer steht über ihnen? Wer herrscht selbst über die Könige der Menschen? Die Magier. Sie selbst haben nichts und doch gehört ihnen alles. Alles ist Aradon. Denn sie besitzen den größten Schatz von allen, Wissen.«
Wieder gab es Zurufe und Mutter Meer wartete sie mit regloser Miene ab. Dann nahm sie sich ein Fleischstück und tunkte es in Soße, um zu essen, während sie den anderen zuhörte.
»Wie zerstört man einen Schatz? Man kann ihn nicht zerstören, man kann ihn nicht rauben. Ein Schatz verschwindet erst wirklich, wenn man ihn an alle verteilt!«