»Ja! Je mehr Leute dasselbe haben, umso geringer ist die Macht des Einzelnen.«
»Welche Macht bleibt den Magiern noch, wenn sie nicht die alleinigen Besitzer des Wissens sind? Wenn alle Welt das Geheimnis der Feenlichter kennt, sind die Magier nicht mächtiger als jeder Bauer oder Hirte!«
Karat war satt. Er erhob sich mit einem knappen Nicken und ging, ohne damit die leidenschaftliche Diskussion zu unterbrechen.
In dieser Nacht suchten ihn unheimliche Träume heim. Er hörte Stimmen durch das Loch in der Decke zu ihm hinabsteigen, wie schmalgliedrige Finger aus Rauch räkelten sie sich um ihn. Dann traten Gestalten aus dem Nichts. Sie waren nur von Licht umrissen. Blätter und Ranken waren ihre Roben. Haar wie bleiche Flammen wogte durch die Luft. Ihre Finger richteten sich auf Karat. Er erschrak, als sie auf ihn zuzuwachsen schienen, ihm bis in die Brust drangen, doch er war unfähig zu schreien, geschweige denn sich zu bewegen.
Wir speisen die Früchte aller Bäume ... Du kannst uns glauben, Sohn der Inseln ... glaube uns. Träume ...
Das Pochen fing wieder an. Es verdrängte sein Herz, war viel mächtiger und schwerer, erdrückte ihn von innen heraus.
Vier gibt es ... es gibt vier. Du musst sie finden, Sohn der Inseln. Sie müssen sich alle finden. Sie müssen sich verbinden ... vereint in einem Herzen ...
Karat presste die Augen zu. Plötzlich jagte er durch den Wald, stolperte durch das knarrende Unterholz, brach durch die verschlungenen Zweige. Neben ihm her glitten die, die immer hier waren und immer hier sein würden. Ihre fröhlichen Gesänge waren die Peitschenhiebe, die ihn antrie – ben. Und das dunkle Herz in ihm pochte ... dann brach er aus dem Gestrüpp und erreichte einen spiegelglatten Teich, an dem eine von ihnen saß. Moos und Ranken wuchsen ihre Glieder empor, durchsichtig wie sonnenbeschienenes Glas. Ihre Hand strich durch das Wasser, ohne eine Welle zu verursachen.
Vier gibt es ... Doch nur einer wird leben ... um zu töten ... töte die anderen!
Und plötzlich waren es die Stimmen seiner Kindheit, die zu ihm sprachen, und echte Peitschen, die ihn schlugen. Karat war wieder namenlos. Ein Schatten in einer Woge aus Dunkelheit. Sie waren in einer Schlacht. Ein Junge aus seinem Dorf starb vor seinen Augen, doch er erkannte ihn längst nicht mehr. Erst später, als das blutbespritzte Gesicht nicht aufhörte, ihn zu verfolgen, fiel es ihm wieder ein. Er hatte manchmal Muschelwerfen mit ihm gespielt. Einmal hatten sie wegen einer Muschel gerauft, als nicht klar war, wer sie gewonnen hatte.
Die Muschel von Mutter Meer fiel ihm ein wie ein feines Rasseln von Sand. Er bewahrte sie in der Innentasche seines Wamses auf. Dicht an dem dunklen Pochen, das in ihm wuchs wie eine schwere, ölige Blase. Aber der Muschel konnte nichts passieren. Sie war immer da gewesen, seit Anbeginn der Zeit, sie war alt wie das Meer selbst und ihre Form war ein Zeichen der Ewigkeit. Er legte eine Hand darauf.
Die Bilder der Vergangenheit stürzten in sich zusammen. Die Lichtgestalten zogen davon wie Rauch im Wind, wurden wieder zu Bäumen, zu Wald.
Er erwachte durch ungewöhnlichen Lärm. Aufgeregte Stimmen wurden laut. Jemand rief nach Mutter Meer. Karat schlug die Augen auf. Irgendetwas war da oben los. Noch schwindelig vor Schlaf, schwang er die Beine aus dem Bett und zog sich sein Wams über, während er die Stufen emporstieg.
Es war ein frostiger Morgen, der Nebel so dicht, dass Karat nur Schemen ausmachen konnte, bis er direkt unter ihnen war. Alle umringten vier wirr aussehende, abgemagerte Isen, die Karat noch nie hier gesehen hatte. Es mussten Neuankömmlinge sein. Ergriffen umarmten die anderen Rebellen sie und hießen sie willkommen. Karat trat einen Schritt zurück, um ihren glücklichen Moment nicht zu stören. Dann kam Mutter Meer.
Die anderen wichen zur Seite. Die vier Neuankömmlinge starrten sie blinzelnd an, so als versuchten sie, die Anführerin von irgendwo wiederzuerkennen. Sie breitete die Arme aus, drückte jedem von ihnen die Schultern, legte eine Hand an ihren Hinterkopf, murmelte Begrüßungen, als wären sie alte Bekannte. Erst einer, dann auch die anderen sanken vor ihr auf die Knie.
»Es gibt dich wirklich! Wir hatten schon fast aufgehört, daran zu glauben ... alle haben so lange auf dich gewartet, aber du bist nicht gekommen. Die Rebellion hat längst angefangen!«
Ein anderer nickte heftig. »Überall haben sich unsere Brüder und Schwestern erhoben. Die Feldarbeiter in Kapua. Die Siedlungen entlang des Horrùn. In den Städten von Moia. Pellinar ist in unserer Hand, doch ...« Der Mann verstummte. Die Frau neben ihm fuhr für ihn fort: »Es gibt so viele verschiedene Banden. Sie haben angefangen, um die Stadt zu kämpfen.«
»Isen gegen Isen?«, fragte Mutter Meer bestürzt.
»Ja. Und nicht nur in Pellinar.«
Die Neuankömmlinge erhoben sich wieder. Einer von ihnen ergriff Mutter Meers Hand. »Wir brauchen dich. Du kannst alle einen, sie werden an dich glauben, wenn sie dich sehen. Du bist die echte Mutter Meer!«
Oyara atmete durch, doch es war offensichtlich, wie viel Mühe es sie kostete, ruhig zu bleiben. »Ich wusste nicht, dass es bereits so weit gekommen ist.«
Karat sah, dass sie mit den Zähnen malmte. Dann reckte sie sich ein wenig und blickte in die Menge. »Schwestern, Brüder: Ich habe zu lange gewartet. Ich wollte, dass die Magier erst ihren rätselhaften Dämon finden und uns keine Schuld geben können. Doch ...«
Da unterbrach sie einer der Neulinge: »Die Magier haben den Dämon gefunden! Das heißt – sie wissen nun, dass er aus dem Alten Reich kam. Habt ihr nicht davon gehört? Sie haben dem Alten Reich den Krieg erklärt. In ganz Aradon spricht man davon.«
Karat fühlte ein Pochen in den Ohren. »Was?«, fragte er rau. »Sie haben den zweiten Dämon gefunden?«
Die Rebellen musterten ihn. »Ich weiß nicht, wie viele Dämonen es gibt. Aber die Magier haben verkündet, dass das Alte Reich dahintersteckt, also müssen sie wohl einen Dämon gefunden haben. Jedenfalls verdächtigen sie nicht mehr uns.« Der Mann wandte sich wieder Mutter Meer zu. »Der Augenblick ist gekommen. Die Magier sind geschwächt. Sie können nicht das Alte Reich und uns gleichzeitig bekämpfen!«
Karat hörte nur noch halb zu. Die Dämonen kamen also aus dem Alten Reich ... er wusste nichts über das Alte Reich, außer dass es hinter den Kauenden Klippen lag und vor der Magierschaft geherrscht hatte. Ihm war nie in den Sinn gekommen, dass Aradon Feinde haben könnte außer den Isen. Es war eine befriedigende Vorstellung, nicht alleine zu sein – auch wenn das Alte Reich, soweit er wusste, ebenfalls von menschlichen Zauberern beherrscht wurde. Wahrscheinlich waren sie den Magiern nicht unähnlich. Die Menschen waren alle gleich.
Karat erwachte aus seinen Gedanken, als rings um ihn Bewegung ausbrach. Die Rebellen kümmerten sich um die Neuankömmlinge und man redete von Aufbruch. Nachdenklich folgte Karat den anderen in die große Halle. Suppe wurde ausgeteilt und er ließ sich eine Schüssel geben. Die meisten Rebellen waren zu aufgeregt, um zu essen. Mutter Meer verkündete, dass sie noch heute Naruhl verlassen würden. Karat ließ sich auf den Matten nieder und trank ruhig seine Suppe. Er musste nachdenken. Die Rebellen, die um ihn herumhuschten, ließen ihn in Frieden, schienen ihn gar nicht zu bemerken. Auch er beachtete sie nicht.
Das Pochen in ihm blendete alles aus, verdunkelte, was unwichtig war ...
Vier gibt es ... es gibt vier. Aber nur einer wird überleben ... du könntest der eine sein ... du musst der eine sein!
Ihre Stimmen lagen so klar und deutlich über dem unsinnigen Lärm der Rebellen wie reines Wasser über einem schlammigen Grund. Karat nickte kaum merklich – nickte ihnen und sich selbst zu. Sie hatten recht, natürlich hatten sie das. Sie waren die, die immer recht hatten.