Er merkte, dass er seine Suppe längst getrunken hatte und eine leere Schüssel in den Händen hielt, wer weiß, wie lange schon. Er erhob sich und ging zu den Räumen von Mutter Meer. Sie war in ihrer privaten Schlafkammer und redete mit einer Gruppe von Kriegern über einen Waffenvorrat. Als sie Karat eintraten sah, beeilte sie sich, die anderen zu verabschieden. Er wartete geduldig. Als sie alleine waren, stützte sie erwartungsvoll die Arme in die Hüften.
Karat verbeugte sich. »Danke für deine Hilfe. Ich habe noch nie jemandem gedankt. Aber dir bin ich dankbar.«
»Ja«, sagte sie schlicht.
Karat erhob sich. Einen Moment standen sie sich schweigend gegenüber. Durch die Fenster fielen Lichtstreifen wie Messerklingen zwischen ihm und ihr. »Viel Glück in deinem Krieg«, sagte er und meinte es aufrichtig.
Oyara wandte sich zur Seite und blickte nach draußen. »Wir werden alle gemeinsam gegen Aradon ziehen, vereint in Schwert und Seele. Dann erobern wir die Türme der Magierschaft und machen das Wissen allen zugänglich. Wenn alle dasselbe Wissen haben, sind alle gleich, und niemand kann den anderen unterdrücken.« Sie ballte die Fäuste und sah ihn an. »Komm mit uns mit, Bruder!«
Er war überrascht über ihren flehenden Ton. Sie trat auf ihn zu, blieb aber im Licht stehen. Ihr wildes Haar schien sich zu entzünden wie Flammen.
Bevor Karat antworten konnte, fuhr sie fort: »Du hast einen der Dämonen getötet. Vielleicht bist du gegen magische Angriffe gefeit. Ich weiß es nicht. Aber wir können jemanden wie dich gut gebrauchen. Du bist ein Krieger, Karat! Hier ist ein Kampf, der einen Sinn hat. Gib deinem Leben einen Sinn!«
Karat schüttelte knapp den Kopf. Die Leidenschaft in ihren Augen versank in jener Tiefe, in der sie wohl all ihre Gefühle aufbewahrte, wenn sie sie gerade nicht brauchte. »Ich habe ein anderes Ziel«, sagte er ruhig.
»Welches?«
»Rache, so wie du. Ich werde den Dämon töten, der mich verletzt hat.«
Sie blähte die Nasenflügel. »Mein Ziel mit Rache zu verwechseln, ist verletzend. Wir verbessern die Welt.«
Er musste fast lächeln. »Daran glaube ich nicht, das müsstest du inzwischen wissen.« Er blieb noch einen Moment stehen und sah sie an. »Du bist eine außergewöhnliche Frau.«
Die Worte hingen in der Luft wie Staubkörner im Licht. Karat gab sich einen Ruck und wandte sich zum Gehen. Er wusste, dass sie ihm nachsah, doch sie hielt ihn nicht zurück. So war sie nicht. Dafür war sie zu klug.
Die rauschenden Wälder führten ihn. Schatten und Lichter tanzten um seine Füße, lenkten seine Schritte. Er hörte ihr Lachen im Knarren der Zweige, im raschelnden Wind. Aus den Augenwinkeln konnte er sehen, wie sie ihn hinter den Birken begleiteten. Ihre Körper waren nur mit Moos und Efeu bedeckt und leuchteten wie späte Sonnenstrahlen.
Hier lang, Sohn der Inseln ...
Er musste nicht fragen, ob sie ihn wirklich zum Dämon führten. Sie kannten das Verlangen seines Herzens und wollten es erfüllen. Sein Herz ... eine schwarze, kochende Blase in seiner Brust.
Er kletterte einen Steinhang hinab. Als er ausrutschte, spürte er für eine Sekunde, wie ihn jemand am Gelenk festhielt. Und er hätte schwören können, eine Hand zu sehen, von Ranken umschlungen, die ihn losließ und verschwand.
Sie waren da. An seiner Seite. Er schloss die Augen. Was brauchte er schon Brüder und Schwestern, eine Mutter Meer, wenn er sie an seiner Seite hatte? Sie waren die Einzigen, die wirklich Trost spenden konnten. Die, die immer gewesen waren, immer sein würden.
Er folgte dem Steinhang, bis er etwas durch die Bäume blitzen sah. Taumelnd kam er näher. Schob die Zweige beiseite.
Er stand vor einem schwarzen Teich. Das Wasser war vollkommen ruhig und reflektierte die Bäume, die sich über ihn beugten, und die kleinen Flecken Himmel dazwischen. Karat blinzelte. Es war der Teich, den er in seinem Traum erblickt hatte. Das Licht fiel ringsum in den Wald ein, Pollen tanzten. Ihm war, als schwebten Gestalten vorüber, doch wann immer er genauer hinsah, waren sie weg; er konnte sie nur aus den Augenwinkeln erkennen.
Langsam begann er, das Ufer entlangzugehen. Ein runder Felsen reichte ins Wasser. Hier hatte die Gestalt in seinem Traum gesessen. Als er näher kam, wurde ihm schwindelig.
Da lag es – sein Araidann. Als hätte es geduldig auf ihn gewartet. Blut verkrustete die Klinge, die den Dämon getötet hatte. Doch sonst war es sauber; kein Moos, keine Erdklumpen, nichts.
Karat nahm es in die Hand. Es fühlte sich vertraut, aber kühl an. Es gab keine Erklärung dafür, wie das Schwert hergekommen war. Der Kampf hatte meilenweit entfernt stattgefunden. Und selbst wenn Karat sich irrte, hatte er sein Schwert losgelassen, als er durch die Luft geschleudert worden war; unter keinen Umständen hätte es hier am Ufer landen können, so ordentlich platziert.
Er schloss beide Fäuste um den Griff und sah sich um. Langsam drehte er sich im Kreis. Der Wald schwieg. Nur die Lichter zitterten zwischen den Bäumen, und immer am Rand seiner Sichtweite schwebten die vorüber, die keine Namen hatten.
Karat atmete schwer. »Ja ... ja. Ja. Ja!« Er schnaufte. »Ja!«, schrie er in die Stille. Stille antwortete ihm. »Ich werde ihn töten. Ich töte sie alle. Ich bin der eine. Ich bin der eine!«
Die Jägerin
Als die Tage verstrichen, legte sich die Aufregung in den Türmen nicht – im Gegenteil. Die Gerüchte wucherten wie Unkraut in allen Hallen und Fluren. Vor allem die magischen Waffen, hinter denen die Dämonen angeblich her waren, sorgten für reichlich Gesprächsstoff; von verwunschenen Schwertern bis hin zu Hypnosezaubern und willenlosen Kriegern wurde alles in Erwägung gezogen, was die Fantasie der Leute hergab. Nur auf die Totenlichter kam niemand. Wahrscheinlich musste man so vertraut mit der Geschichte antiker Magie sein wie Meister Olowain, um überhaupt davon zu wissen. Wenn sie doch jemand kannte und mit den Dämonen in Verbindung brachte, behielt er es offensichtlich für sich.
Die Spekulationen, die nichts mit den Waffen zu tun hatten, waren näher an der Realität. Zum Beispiel munkelte man, dass die Magierschaft schon lange mit dem Gedanken gespielt hatte, ins Alte Reich einzufallen, und die Dämonen nur ein Vorwand waren. Denn im Alten Reich waren die Liriumquellen vollkommen unberührt; dort war noch nie Sturmjagd betrieben worden. Sie würden Aradon Jahrzehnte ohne Sorgen schenken und vielleicht genug Zeit, um das Problem des begrenzten Liriums zu lösen – falls es dafür eine Lösung gab.
Meister Olowain verbrachte Stunde um Stunde in der Bibliothek. Oft rief er Hel zu sich und setzte sich mit ihr in einem kleinen Kaminraum vor der Bibliothek zusammen – denn die Bücherhallen durften ausschließlich Magier betreten – und befragte sie. Hel erzählte ihm von der Begegnung zwischen Mercurin und der geheimnisvollen jungen Frau in Har’punaptra, kurz bevor ihre Wege sich getrennt hatten. Im Nachhinein war ersichtlich, dass die Frau ebenfalls ein Dämon aus dem Alten Reich sein musste. Hel erinnerte sich, dass sie von anderen gesprochen hatte, und sie kamen zu dem Schluss, dass es mindestens vier Dämonen gab, von denen einer bereits mit Sicherheit tot war.
»Aber der Ise hat nun das Totenlicht«, gab Olowain zu bedenken. »Es überträgt sich, indem man den Besitzer tötet. Das heißt, in dem Isen wird ein neuer Dämon entstehen, wenn wir ihn nicht rechtzeitig finden und unschädlich machen.«
Hel dachte eine Weile darüber nach, sagte aber nichts. Sie war beunruhigt und hatte Fragen, die sie Olowain nicht stellen wollte.
Eines Nachts wachte Hel plötzlich auf und wusste, wo sie den Isen gesehen hatte. Es fiel ihr ein, als würde ein leuchtendes Silberstück klirrend auf den Boden fallen: In der Windigen Stadt, in der Arena, beim Trollkampf. Die lange Narbe von seinem Hals über die Wange, die kalten hellgrünen Augen. Er war es.